Fünfter Artikel. Kraft seiner Natur liebt der Engel Gott mehr als sich selber.
a) Dem widerspricht: I. Liebe entspricht der Einheit oder Einigung. Die göttliche Natur aber ist unendlich weit entfernt von der Engelsnatur. Also kraft der Natur liebt der Engel Gott weniger als sich selbst und als einen anderen Engel. II. Mit der natürlichen Liebe liebt jeder den anderen wegen sich selber; denn er liebt Anderes, insoweit es ihm ein Gut ist. Weswegen aber etwas geschieht, das hat auf der betreffenden Seinsstufe mehr und höheres Sein als das, was seinethalben geschieht. Also, soweit die Liebe in Betracht kommt, liebt der Engel sich selbst mehr als Gott. III. Was kraft seiner Natur handelt, das handelt behufs Erhaltung seiner selbst. Das würde aber nicht statthaben, wenn es nach etwas anderem mehr strebte, wie nach sich selbst. Also kraft seiner Natur liebt der Engel Gott nicht mehr wie sich selbst. IV. Das ist eigen der übernatürlichen Liebe, daß jemand Gott mehr liebt wie sich selber. Diese Liebe aber „ist ausgegossen durch den heiligen Geist“ (auch in den Engeln), „der ihnen gegeben worden;“ nicht aber durch die Natur, wie Augustin sagt. (12. de Civ. Dei c. 9.) V. Die natürliche Liebe bleibt ebenso wie die Natur. Gott aber über alles lieben, das bleibt nicht in den bösen Engeln; denn Augustin sägt (14. de Civ. Dei c. ult.): „Zwei Städte wurden erbaut durch zwei Arten Liebe; die irdische Stadt durch die Eigenliebe, die bis zur Verachtung Gottes geht; und die himmlische Stadt durch die Liebe Gottes, die bis zur Verachtung seiner selbst geht.“ Auf der anderen Seite sind die Moralgesetze des Alten Bundes nichts Anderes wie das Naturgesetz. Das Gebot aber, Gott zu lieben über alles und seinen Nächsten wie sich selbst, ist im Moralgesetze. Also gründet dieses Gebot auf der Natur.
b) Ich antworte, daß manche sagten, der Engel liebe Gott mehr wie sich selber kraft der begehrenden Liebe, insoweit er mehr danach strebt, daß das göttliche Gut ihm gehöre wie sein eigenes; — und auch kraft der Freundschaftsliebe, insoweit der Engel mit natürlicher Liebe will, daft Gott ein größeres Gut habe, wie er selber; denn mit seiner Natur will er, daß Gott immerdar Gott sei, daß er selber aber seine eigene Natur habe. Von dem Gesagten aber abgesehen, also ohne auf dergleichen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen, liebe absolut der Engel, so sagen sie, mehr sich selbst wie er Gott liebt; denn auf sich selbst geht das Streben und Verlangen seiner Natur mit größerer Kraft wie auf Gott. Um aber das Falsche dieser Meinung zu durchschauen, ist es nur notwendig zu sehen, nach welcher Richtung die Dinge im Bereiche der Natur hinbewegt werden; denn was in den vernunftlosen Dingen sich findet, das ist ein Zeichen von dem, wozu der geistige Wille sich seiner Natur nach hinneigt. Das aber sehen wir in diesen natürlichen Dingen, daß jenes, was von Natur einem anderen gehört, stärker und heftiger zu dem hinneigt, dem es gehört, wie zu sich selber. Diese natürliche Hinneigung zeigt sich offenbar in dem, was durch natürliche Thätigkeit geschieht, insofern (2 Physic.) jedes Ding seiner Natur überlassen so thätig ist, wie es von Natur aus geeignet ist, thätig zu sein. Da sehen wir nun, wie auf Grund der Natur der Teil sich aussetzt behufs der Erhaltung des Ganzen, wie z. B. die Hand ohne Überlegung sich erhebt, um zum eigenen Schaden den Schlag abzuwehren, der dem ganzen Körper oder einem edleren Teile gilt. Und da der menschliche Verstand die Natur nachahmt, so finden wir ganz dasselbe in den gesellschaftlichen Tugenden; wie z. B. ein einzelner dem Tode sich aussetzt, damit das Gemeinwesen erhalten werde. Und wäre der einzelne Staat ein natürliches Ganze, so würde der betreffende Bürger dies kraft seiner Natur thun. Da nun also Gott das Gut der Gesamtheit ist und unter diesem Gute sich als Teilgüter befinden sowohl der Engel wie der Mensch und jede Kreatur, denn jede Kreatur ist auf Grund ihrer Natur, soweit sie nur immer ist, Gottes; so folgt, daß kraft der Naturliebe der Engel und der Mensch mehr und stärker Gott lieben wie sich selbst. Sonst nämlich, wenn der Engel mit natürlicher Liebe mehr sich selber liebte wie Gott, würde die Folgerung daraus sein, daß die von der Natur kommende Liebe verkehrt sei und daß sie nicht vollendet würde durch die wahre übernatürliche Liebe, sondern vielmehr zerstört.
c) I. Der Einwurf berücksichtigt nur den Umstand, wenn zwei Dinge auf derselben Seinsstufe stehen; nicht aber wenn das eine derselben den Grund des Seins und der Güte für das andere bildet. In den erstgenannten liebt ein Ding mehr sich selber wie das andere, denn es ist mit sich selber mehr eins wie mit einem anderen. In den anderen aber liebt man dasjenige, welches den Grund für das eigene Sein und für die eigene Güte abgiebt, mehr als sich selbst; weil jeder Teil das Ganze mehr liebt wie sich selbst und jedes Einzelding mehr das Gut seiner Gattung liebt wie sein einzelnes Gut. Gott aber ist das Allgut; jedes Ding also liebt Ihn kraft der Natur mehr wie sich selbst. II. Wenn mit dem „insofern Gott dem Engel ein Gut ist“ gesagt sein soll, der Engel liebe Gott wegen des Guten, was er von Gott hat, also wegen seiner selbst als des letzteren Zweckes; — so ist dies falsch; denn der Engel liebt Gott wegen Gottes selber. Wird jedoch nur der Grund ausgedrückt, warum er Gott liebt, so ist es wahr; denn niemand kann Gott lieben, außer aus dem Grunde, weil in ihm ein Gut ist, welches von Gott abhängt. III. Die Natur kehrt zu sich zurück; nicht bloß als eine einzelne besondere, sondern auch und zwar weit mehr als eine allgemeine. Denn jedes Ding strebt mehr nach der Erhaltung seiner Gattung wie nach der eigenen Erhaltung; und noch mehr strebt es zum Allgute. IV. Gott hat jedem Dinge sein natürliches Sein und das entsprechende Gut gegeben; und deshalb wird Er kraft der Natur geliebt. Er giebt den Auserwählten die ewige Herrlichkeit; und deshalb wird Er kraft übernatürlicher Liebe geliebt. V. In Gott ist es ein und dasselbe: seine Substanz und seine Allgüte. Wer also sein Wesen schaut, der liebt zugleich das Wesen Gottes als vom Anderen Unterschiedenes und seine göttliche Güte. Wer aber sein Wesen nicht schaut, sondern bloß einige seiner Wirkungen, die oft dem geschöpflichen Willen entgegen sind, der wird danach bezeichnet, als hasse er Gott; da doch auch dieser letztere mehr liebt Gott als das Gesamtgut wie sich selber.
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