Zweiter Artikel. Der einzelne Mensch hat seinen besonderen Schutzengel.
a) Das ist durchaus nicht notwendig. Denn: I. Der Engel ist kraftvoller wie der Mensch. Ein Mensch aber genügt zum Schutze vieler. II. Die niedrigeren Wesen kommen zu Gott durch Vermittlung der höheren. Die Engel aber sind einander ungleich. Da also der eine Engel immer durch den anderen, den höheren, erleuchtet wird, so bleibt zum Schutze der Menschen nur einer, der niedrigste, zurück, zwischen dem und den Menschen kein anderer Engel mehr in der Mitte steht. III. Den höheren Engel werden höhere Aufgaben zugeteilt. Es ist aber keine höhere Aufgabe, den einen Menschen zu behüten wie den anderen; denn alle Menschen haben ein und dieselbe Natur. Da also ein Engel immer höher und größer ist wie der andere, so scheint es, daß die verschiedenen Menschen nicht von verschiedenen Engeln behütet werden. Auf der anderen Seite sagt Hieronymus zu Matth. 18. Angeli eorum: „Groß ist die Würde der Seele, daß eine jede von dem Augenblicke der Geburt an einen Engel als Schützer zugeteilt erhalten hat.“
b) Ich antworte, jeder einzelne Mensch habe einen Engel zum Schutze erhalten. Der Grund davon ist, weil der Schutz von seiten der Engel nichts Anderes ist wie die Ausführung der göttlichen Vorsehung rücksichtlich der Menschen. Die Vorsehung Gottes aber verhält sich anders zu den Menschen wie zu den übrigen vergänglichen Kreaturen; weil sich die Menschen anders verhalten zur Unvergänglichkeit. Die Menschen nämlich sind nicht nur mit Rücksicht auf die gemeinsame Gattung unvergänglich wie alle vergänglichen Wesen; sondern auch mit Rücksicht auf die bestimmende Wesensform im einzelnen Menschen, die da eben die vernünftige Seele ist. Offenbar aber ist die Vorsehung Gottes in erster Linie auf jene Wesen gerichtet, die bleiben; und dann erst auf jene, die vorübergehen, denn sie lenkt diese letzteren zum Besten derer, die nicht vergehen. So also steht die Vorsehung Gottes im nämlichen Verhältnisse zu den einzelnen Menschen wie zu den einzelnen Gattungen oder „Arten“ der vergänglichen Dinge. Nun sind aber nach Gregor die einzelnen Chöre zugeteilt verschiedenen Seinskreisen der Dinge, wie z. B. die Gewalten dem Bezwingen der Dämonen, die Kräfte dem Wirken von Wundern; und wahrscheinlich ist es, daß den verschiedenen Gattungen der Dinge verschiedene Engel ein und desselben Chores zugeteilt sind. Also ist es auch der Vernunft angemessen, daß den verschiedenen Menschen verschiedene Engel zum Schutze gegeben sind.
c) I. Einem Menschen wird in doppelter Weise ein Schützer zugeordnet: Zuvörderst, insofern er ein einzelner Mensch ist; und so gebührt einem Menschen ein Schützer und bisweilen sind mehrere Schützer da für einen Menschen; — dann, insofern der Mensch zu einem Ganzen gehört, z. B. Glied eines Kollegiums ist; und so ist für das ganze Kollegium ein Schützer, der jeden einzelnen in dem betreffenden Kollegium behütet in seinen Beziehungen zu letzterem. Ihm gehört es zu, das Schädliche vom Kollegium fern zu halten, dessen Thätigkeit nach außen hin zu regeln etc. Der Engelschutz aber dient dem Menschen auch mit Rücksicht auf das Unsichtbare, Verborgene, was nur das Heil des einzelnen als solchen angeht. Sonach wird jedem Menschen ein Schützer gegeben. II. Wie gesagt worden, werden die Engel der ersten Hierarchie alle insgesamt von Gott unmittelbar erleuchtet. Jedoch giebt es gewisse Geheimnisse, rücksichtlich deren nur die höheren erleuchtet sind, durch die dann die Erleuchtung sich auf die tiefer stehenden innerhalb derselben ersten Hierarchie ergießt. Und dasselbe ist bei den anderen Chören zu beobachten. Denn einer vom niedrigsten Chöre kann mit Rücksicht auf einige Wahrheiten von einem in dem höchsten Chöre erleuchtet werden und mit Rücksicht auf andere Wahrheiten von einem, der unmittelbar über ihm steht. Und so ist es wohl möglich, daß den Menschen ein Engel erleuchtet, der unter sich noch andere Engel hat, welche er erleuchtet. III. Alle Menschen sind allerdings von Natur gleich; jedoch besteht darin eine Ungleichheit in ihnen, daß durch die göttliche Vorsehung die einen zu mehr Vollkommenheit, die anderen zu geringerer bestimmt sind nach Ekkli. 33.: „Je nach der Menge der Wege des Herrn hat er sie getrennt; die einen aus ihnen segnete und erhöhte er.... andere verfluchte und erniedrigte er.“ Und sonach ist es ganz wohl eine höhere Aufgabe, den einen Menschen zu schützen, wie es die ist, den anderen zu schützen.
