Sechster Artikel. Der Schutzengel verläßt niemals den Menschen.
a) Dies scheint doch: I. Bei Jerem. 51, 9. heißt es: „Wir haben Babylon heilen wollen; es hat sich nicht heilen lassen; verlassen wir es;“ — und Isaias 5, 5. sagt:„Den Zaun“ (d. h., sagt die Glosse, den Schutz der Engel) „will ich fortnehmen und es wird zertreten werden.“ II. Gott beschützt immer an erster Stelle. Er verläßt aber zuweilen die Seele; wie Ps. 21, 1. sagt: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“ Also verläßt auch um so mehr der Schutzengel. III. Damascenus (2.de orth. fide 3.) schreibt: „Während die Engel hier mit uns sind, sind sie nicht im Himmel.“ Bisweilen aber sind sie im Himmel; also sind sie nicht immer mit uns. Auf der anderen Seite bekämpfen uns immerdar die Teufel; wie Petr. (I. 5, 8.) sagt: „Euer Gegner, der Teufel, geht herum wie ein brüllender Löwe; und sucht, wen er verschlinge.“ Also behüten uns auch immerdar die heiligen Engel.
b) Ich antworte, der Schutz der Engel sei eine gewisse Ausführung dessen, was die göttliche Vorsehung mit Rücksicht auf uns angeordnet hat. Nun ist es aber offenbar, daß weder der Mensch noch irgend ein Ding ganz und gar der göttlichen Vorsehung entzogen wird. Denn insoweit etwas am Sein teilnimmt, ist es auch der allumfassenden Vorsehung alles Seins untergeben. Gott aber verläßt in dem Sinne gemäß seiner Vorsehung einen Menschen als Er erlaubt, daß dieser Mensch einen Mangel oder Fehler habe, sei es die Sünde oder deren Strafe. Also ist ähnlich auch zu sagen, daß der Schutzengel niemals den Menschen ganz und gar verläßt. Bisweilen nur wird gesagt, er verlasse ihn, insoweit er nämlich nicht hindert, daß der betreffende Mensch einer Trübsal unterstehe oder in eine Sünde falle; immer gemäß der Ordnung der göttlichen Ratschlüsse. Demgemäß also werden Babylon und das Haus Israel verlassen genannt; weil die Engel nicht hinderten, daß Strafen und Trübsale über diese Völker hereinbrachen.
c) I. und II. ist damit beantwortet. III. Der Engel kann manchmal, was den Ort anbetrifft, den Menschen verlassen; nicht aber soweit es die Wirkung des Schutzes angeht. Denn auch während er im Himmel ist, kennt er das, was um seinen Schutzbefohlenen herum vorgeht; und einer irgend welchen Zeit bedarf es für ihn nicht, um zur Hilfe gleich da zu sein.
