Vierter Artikel. Nach der Auffassung der Vernunft ist das wahre früher als das Gute; und nicht das Wahre stützt sich für das geschöpfliche Erkennen auf das Gute, sondern vom Guten wird das Wahre vorausgesetzt.
a) Dagegen scheint jedoch schon der Wesenscharakter des Guten zu sprechen. Denn: I. Was höher steht in der Allgemeinheit, das ist eher in der Aufassung der Vernunft; wie z. B. diese eher auffaßt, daß ihr Gegenstand im allgemeinen Sein hat, als daß er weiß oder schwarz, lebend oder leblos, Mensch oder Tier ist. Das Gute aber ist allgemeiner als das Wahre, denn das Wahre ist nur ein gewisses, besonderes Gute; nämlich das Gute für die Vernunft. Also ist das Gute früher in der Auffassung wie das Wahre. II. Das Gute ist in den Dingen; das Wahre aber in der Vernunft, soweit diese nämlich Prädikat und Subjekt miteinander verbindet oder voneinander trennt. Das objektive äußere Sein ist aber mit allem, was in ihm ist, vor der Auffassung und vor dem, was und insoweit es in der Vernunft sich vorfindet. Also ergiebt sich der gleiche Schluß. III. Die Wahrheit ist eine besondere Gattung unter den Tugenden (III. Ethic. c. 7.). Die Tugenden aber alle sind im Guten enthalten. Also ist die Wahrheit nur eine besondere Gattung des Guten und somit ist letzteres eine höhere Allgemeinheit und eher aufgefaßt wie das Wahre. Auf der anderen Seite ist das, was in mehreren ist, früher in der Auffassung. Zuerst fasse ich z. B. das „Menschliche“ auf, was allen Menschen gemeinsam ist; und dann erst die näheren Bestimmungen, wie „schwarz“,weiß“, die im einzelnen nicht allen Menschen zukommen. Das Wahre aber ist in manchen Dingen, wo kein Gut ist; nämlich in den Mathematischen Größen.“ Also wird das Wahre früher als das Gute aufgefaßt.
b) Ich antworte, daß das Wahre und Gute wohl, was die thatsächliche Seinsunterlage betrifft, zusammenfallen; denn ein und dasselbe Sein ist zugleich wahr und ist gut. Für die Auffassung der Vernunft aber besteht zwischen beiden ein Unterschied. Und nach dieser Seite hin ist ohne weitere Voraussetzung das Wahre früher wie das Gute. Dies ergiebt sich aus zwei Erwägungen: 1. Das Wahre steht dem Nein näher als das Gute und dieses letztere ist früher als das Gute; da ja „gut“ vom Sein ausgesagt wird. Denn das Wahre bezieht sich auf das Sein an sich der Substanz nach; und es bezieht sich unmittelbar darauf. Das Wesen des Guten aber folgt dem Sein erst, insoweit dieses in gewisser Weise vollendet ist; denn erst insoweit ist es begehrenswert. 2. Folgt das Begehren seiner Natur nach dem Erkennen. Da also das Wahre Beziehung hat zur Erkenntnis, das Begehrenswerte zum Begehren; so ist in der Auffassung notwendig das Wahre die Voraussetzung für das Gute. Danach lösen sich die Einwürfe. I. Der Wille und die Vernunft nämlich schließen sich gegenseitig gewissermaßen ein. Denn der Wille will, daß die Vernunft erkenne; und.die Vernunft hat zum Erkenntnisgegenstande den Willen. So also ist in den Dingen, welche als Gegenstand des Willens dastehen, auch das als etwas Begehrenswertes enthalten, was Gegenstand der Vernunft ist und umgekehrt. Deshalb verhält sich im Bereiche des Begehrenswerten, des Guten, die Wahrheit wie ein besonderes Gut und das Gute überhaupt als das Allgemeine und umgekehrt. Daraus also, daß die Wahrheit ein einzelnes besonderes Gut ist, folgt, daß das Gute im Bereiche des Begehrenswerten früher, weil allgemeiner ist; nicht aber folgt, daß es ohne weitere Voraussetzung, unbedingt, früher in der Auffassung sei. II. Insoweit ist etwas der Auffassung nach früher, als es früher Gegenstand der Vernunft ist. Die Vernunft aber erfaßt zuerst das Sein, nämlich daß etwas ist; dann, daß sie dies erfaßt; schließlich erfaßt sie, daß das Sein begehrenswert ist. Also zuerst in der Auffassung steht das Sein; dann das Wahre; zuletzt das Gute; mag auch das Gute,in den Dingen sein. III. Die Tugend, welche Wahrheit heißt, ist nicht dasselbe, wie die Wahrheit an sich; sondern ist eine gewisse Wahrheit, gemäß welcher der Mensch in seinen Worten und Thaten so sich zeigt, wie er ist. Die Wahrheit des Lebens aber wird so genannt, insofern der Mensch in seinem Leben erfüllt, wozu er durch die göttliche Vernunft bestimmt ist. Die Wahrheit der Gerechtigkeit heißt so, insofern der Mensch gegenüber seinem Nächsten das hält, wozu ihn die Gesetze verpflichten. Sonach ist aus diesen besonderen einzelnen Wahrheiten nicht vorzugehen, um etwas über die Wahrheit im allgemeinen oder dem Wesen nach zu bestimmen.
