Siebenter Artikel. Ein und dieselbe Sache kann der eine besser verstehen wie der andere.
a) Dem entgegen scheint die Stelle Augustins zu sein: I. „Wer eine Sache anders versteht als sie ist, versteht sie nicht. Deshalb ist gar nicht daran zu zweifeln, daß ein vollendetes Verständnis der Dinge besteht, über das hinaus kein vollendeteres gedacht werden kann; bei dem man sagt, jetzt verstehe ich den Gegenstand. Und deshalb braucht man nicht bis ins Endlose weiter zu gehen und meinen, ein immer tieferes Verständnis zu finden. Denn keiner kann den betreffenden Gegenstand mehr verstehen wie der andere.“ (83. Qq. 32.) II. Die Wahrheit nimmt kein Mehr oder Minder in sich an, denn sie ist Gleichheit zwischen der Vernunft und der Sache. Die Vernunft aber ist im Auffassen wahr. Also giebt es da kein Mehr oder Minder. III. Die Vernunft ist die Wesensform im Menschen. Ein Unterschied in der Wesensform aber verursacht den Unterschied in der Gattung. Versteht also ein Mensch in höherem Grade wie der andere, so scheint ein Unterschied in der Gattung zwischen beiden zu bestehen. Auf der anderen Seite bezeugt die Erfahrung, daß die einen ein tieferes Verständnis haben wie die anderen. Denn wer einen gefolgerten Satz auf die ersten Principien zurückzuführen vermag, erkennt denselben tiefer wie jener, der ihn nur auf die nächsten Principien zurückführt.
b) Ich antworte: Daß jemand eine Sache besser versteht wie ein anderer, das ist falsch, wenn das „mehr“ auf den erkannten Gegenstand bezogen wird. Denn wenn jemand versteht, daß dieser Gegenstand mehr oder minder sei, besser oder schlechter wie er wirklich ist, so versteht er falsch; — und in diesem Sinne spricht Augustin (l. c.). Wird jedoch das „mehr“ auf die Erkenntniskraft des Verstehenden bezogen, so ist der Satz richtig. Denn dann heißt dies, daß der eine ein besseres Erkenntnisvermögen hat wie der andere; wie z. B. wer ein gutes Auge hat, vollkommener den Gegenstand sieht. Daß aber die Erkenntniskraft eine verschiedene ist, geht aus zwei Umständen hervor: Erstens kann das Vernunftvermögen selber vollendeter sein; wie ein besser veranlagter Körper eine bessere Seele gewinnt. Denn die Formen und Thätigkeiten treten ein gemäß der entsprechenden Verfassung des Stoffes. Deshalb sagt Aristoteles (2. de anima): „Bei denjenigen, welche zartes Fleisch haben, ist die Vernunft besser.“ Dann können die niedrigeren Kräfte besser veranlagt sein, welche die Vernunft für ihre Thätigkeit voraussetzt. Wer also ein besseres sinnliches Gedächtnis oder eine geeignetere Einbildungs- und Denkkraft hat, der ist für das vernünftige Erkennen mehr geeignet.
c) I. und II. sprechen von der Wahrheit, wie sie auf seiten der Dinge ist; da besteht kein Mehr oder Minder. III. Jener Unterschied in der Wesensform, der nur aus der verschiedenen Verfassung des Stoffes herrührt, verursacht keinen Unterschied in der Gattung; sondern nur in der Zahl.
