Dritter Artikel. Die getrennte Seele erkennt nicht alles im Bereiche der Natur Enthaltene in vollkommener weise.
a) Das scheint doch. Denn: I. Die getrennte Seele erkennt die Engel-Substanzen. Diese aber enthalten in sich als Ideen die Seinsgründe von allem Natürlichen. II. Wer das an sich mehr Erkennbare versteht, der versteht auch das an sich minder Erkennbare. Die Seele versteht aber das an sich mehr Erkennbare, nämlich die stofflosen Substanzen. Also erkennt sie auch alles Stoffliche, d. h. die ganze Natur. III. Auf der anderen Seite ist die natürliche Vernunftkraft in den Dämonen stärker wie in den vom Leibe getrennten Seelen. Die Dämonen aber erkennen nicht Alles, was in der Natur vorgeht, sondern „lernen Vieles auf Grund langer Erfahrung“, wie Isidor sagt. (I. de summo Bono cap. 12, §. 17.) IV. Wenn die Seele nur vom Leibe getrennt zu sein braucht, um alles Natürliche zu kennen, so wäre das Bemühen der Menschen hier im Leben zwecklos., Vieles zu lernen; lernen sie es doch in jedem Falle später ohne Mühe kennen.
b) Ich antworte, daß, wie bereits bemerkt, die getrennte Seele durch Ideen erkennt, welche sie durch den wirkenden Einfluß des göttlichen Lichtes in sich erhält; so wie die Engel. Da aber die Natur der Seele tiefer steht als die des Engels, welchem diese Art und Weise, die Ideen zu erhalten, natürlich ist; so erhält die Seele vermittelst solcher Ideen keine vollkommene Kenntnis der Dinge, sondern sie erkennt dieselben mehr im allgemeinen. Wie also die Engel sich verhalten zur vollkommenen Kenntnis der Dinge vermittelst solcher Ideen, so verhalten sich die getrennten Seelen zur unvollkommenen, nicht so ins Einzelne gehenden. Die Engel aber erkennen alles Natürliche in vollkommener Weise, weil Gott Alles, was er in den stofflichen Naturen zu eigenem wirklichen Sein befähigte, was Er also in der Natur wirkte, auch in die Engelvernunft einprägte, wie Augustin sagt. (2. sup. Gen. ad litt. c. 8.) Also haben auch die getrennten Seelen über alles Natürliche Kenntnis; aber diese Kenntnis ist nicht in demselben Grade gewiß und die Naturen in dem was einer jeden eigentümlich ist so tief umfassend, wie die Engel-Kenntnis.
c) I. Auch die Engel erkennen alles Natürliche nicht kraft ihrer Substanz, sondern vermittelst einiger Ideen. Daraus also daß die Seele die stofflose Substanz kennt, folgt nicht, daß sie alles Natürliche kennt. II. Die getrennte Seele erkennt nicht in vollkommener Weise die stofflosen Substanzen; und ähnlich erkennt sie auch nicht alles Natürliche in vollkommener Weise. III. Isidor spricht von der Erkenntnis des Zukünftigen, was sowohl die Engel wie die Dämonen und die Seelen nur in seiner Ursache erkennen oder kraft göttlicher Offenbarung. IV. Die hier erworbene Kenntnis ist eine eingehende und das Eigene des betreffenden Dinges betreffende. Jene Kenntnis aber ist eine mehr allgemeine und unbestimmte. Also ist das Erlernen hier nicht zwecklos.
