Achter Artikel. Die getrennten Seelen erkennen im allgemeinen nicht, was hier geschieht.
a) Es scheint, daß die vom Leibe getrennten Seelen wissen, was auf Erden geschieht. Denn: I. Man kann nur für dasjenige Sorge tragen, was man kennt. Der Reiche in der Hölle aber sagt (Luk. 16.): „Ich habe fünf Brüder; er möge ihnen also Zeugnis geben, damit nicht auch sie in diesen Ort der Qualen kommen.“ II. Häufig erscheinen die Verstorbenen den Lebenden, wie Samuel z. B. (1. Kön. 28.) dem Saul; und ermahnen sie. Das aber setzt voraus, daß sie wissen, was hier vorgeht. III. Die getrennten Seelen wissen, was bei ihnen geschieht. Wüßten sie also nicht, was bei uns vorgeht; so würden sie gehindert durch die örtliche Entfernung. Auf der anderen Seite heißt es bei Job 14, 21.: „Seien seine Söhne von hohem Stande oder von niedrigem; sie werden nicht verstehen.“
b) Ich antworte; die Toten wissen gemäß dem natürlichen Erkennen nicht, was auf Erden geschieht. Das folgt aus dem Gesagten. Denn die getrennte Seele erkennt Einzeldinge, nur insoweit eine vorhergehende Kenntnis oder Neigung sie bestimmt oder eine Anordnung Gottes. Nun sind aber die getrennten Seelen sowohl nach der Anordnung Gottes als auch gemäß der ihnen eigentümlichen Seinsweise geschieden vom Verkehr mit den Lebenden und verbunden in ihrem Verkehr mit den geistigen Substanzen. Also wissen sie nicht, was bei uns geschieht. Deshalb sagt Gregor der Große (12. Moral. c. 14.): „Die Toten wissen nicht, wie beschaffen das Leben derjenigen ist, die sie hier auf Erden zurücklassen und die noch im Fleische sind; denn das Leben des Geistes ist weit entfernt vom Leben des Fleisches. Und wie das Körperliche vom Unkörperlichen der ganzen Seinsart nach verschieden ist, so ist auch die entsprechende Kenntnis verschieden.“ Dasselbe scheint Augustin mit den Worten auszudrücken: „Die Seelen der Toten mischen sich nicht in die Verhältnisse der Lebendigen.“ Mit Rücksicht auf die Seelen der Heiligen aber scheint Gregor verschiedener Meinung zu sein wie Augustin, Gregor nämlich schreibt (l. c.): „Das darf man jedoch von den Seelen der Heiligen nicht glauben; denn weil sie im Innern des Wesens Gottes die allwaltende Klarheit schauen, so ist nimmermehr anzunehmen, daß sie von dem, was außen geschieht, etwas nicht wissen.“ Augustin aber (de cura mort. c. 13. et 16.): „Die Toten, auch die Heiligen, wissen nicht, was die Lebendigen, oder selbst ihre eigenen Kinder, thun.“ Dies bekräftigt er von da aus, daß er von der Seele seiner Mutter nicht besucht und in seinen Trübseligkeiten getröstet wurde, wie vorher, da sie noch auf Erden lebte; und das ist doch nicht wahrscheinlich, daß ihr Herz im glückseligeren Leben härter geworden sei. Auch führt er dafür an, daß der Herr dem Isaias verhieß, er werde vorher sterben, damit er nicht das Verderben seines Volkes sehe. (4. Kön. 22.) Jedoch sagt Augustin dies zweifelnd; denn er schickt vorher die Worte: „Wie jeder will, mag er nehmen, was ich nun sagen werde.“ Gregor aber behauptet mit Sicherheit: „Man darf durchaus nicht glauben.“ Deshalb scheint es gerechtfertigter zu sein, daß die Seelen der Heiligen im Himmel Alles wissen, was hier auf Erden geschieht, wie Gregor meint. Denn diese Seelen sind den Engeln gleich, von denen Augustin (l. c. cap. 15.) sagt, sie wüßten, was hier geschieht. Da jedoch die Seelen der Heiligen verbunden sind mit der vollkommenen göttlichen Gerechtigkeit, so werden sie weder traurig noch mischen sie sich in die menschlichen Angelegenheiten, außer soweit die gerechte Fügung Gottes dies erheischt.
c) I. Die Seelen der Toten können Sorge haben um die Lebendigen, ohne daß sie damit deren Zustand notwendig kennen; wie wir beten für die Abgestorbenen ohne zu wissen, in welchem Zustande sie sind. Ebenso können sie aber auch die Handlungen der Lebenden wissen; nicht zwar durch sich selbst, weil sie dieselben etwa wahrnähmen, sondern entweder durch die Seelen jener, die von hinnen scheiden, oder durch die Engel oder Dämonen, oder auch durch Offenbarung von seiten Gottes, wie Augustin (l. c.) sagt. II. Daß die Toten den Lebenden erscheinen, das kommt entweder von einer besonderen Fügung Gottes, vermöge deren die getrennten Seelen sich in die Angelegenheiten der Lebendigen mischen — und das ist als Wunder zu betrachten; oder solche Erscheinungen gehen von der Thätigkeit der guten oder bösen Engel aus und die Toten, deren Form diese Engel annehmen, wissen nichts davon; wie ja auch lebende Personen, ohne daß sie selbst davon Kenntnis haben, anderen im Traume erscheinen. (Vgl. Augustin I. c. cap. 10.) So kann demnach auch von Samuel gesagt werden, er sei selber vermöge göttlicher Fügung erschienen, was im Ekkli. 46. angedeutet erscheint: „Er war unter den Entschlafenen und hat dem Könige das Ende seines Lebens bekannt gegeben.“ Oder falls die Autorität des Ekklesiastes nicht anerkannt wird, weil die Hebräer unter ihren heiligen Büchern dieses Buch nicht haben; so kann ebensogut gesagt werden, die Dämonen hätten jene Erscheinungen zustande gebracht. III. Die betreffende Unkenntnis hat ihren Grund nicht in der örtlichen Entfernung; sondern wie eben gesagt worden.
