XXVII. Kapitel: Wie man Verheiratete und wie man Ehelose belehren muß
Verheiratete und Ledige muß man verschieden belehren. Die Eheleute sollen, während sie gegenseitig füreinander bedacht sind, so sich einander zu gefallen suchen, daß sie dem Schöpfer nicht mißfallen. Sie sollen so das, was der Welt gehört, tun, daß sie darüber nicht unterlassen, nach dem zu streben, was Gottes ist. So sollen sie sich an den zeitlichen Gütern erfreuen, daß sie dabei ängstlich in steter Furcht vor der ewigen Pein leben. So sollen sie über zeitliche Trübsale trauern, daß sie dabei, des Trostes voll, ihre Hoffnung auf die ewigen Güter richten, da sie wissen, daß ihr Tun vorübergehend, das Ziel ihres Strebens aber ein bleibendes ist. Die Leiden dieser Welt sollen ihr Herz nicht brechen, während die Hoffnung auf die himmlischen Güter es stärkt. Die Güter dieses Lebens sollen sie nicht täuschen, während die Schrecken des kommenden Gerichtes ihr Gemüt in ernste Trauer versetzt. Es ist also der Geist christlicher Ehegatten sowohl schwach als getreu; schwach ist er, weil er nicht alles Zeitliche vollkommen zu verachten vermag; treu aber ist er, weil er sein Verlangen auf das Ewige richtet; obwohl er bisweilen im Banne der Fleischeslust ist, so soll er doch durch den tröstlichen Hinblick auf den Himmel wieder er- S. 222 starken. Und wenn sie die Güter dieser Welt auf ihrer Pilgerschaft besitzen, so sollen sie auf das, was Gottes ist, hoffen, als auf die Frucht, die am Ende zuteil wird. Auch sollen sie sich nicht ganz in ihre Geschäfte vertiefen, um nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren, was sie aus allen Kräften hoffen sollten. Dies drückt Paulus kurz und bündig aus, wenn er sagt: „Die, welche Frauen haben, seien, als hätten sie keine; und die, welche weinen, als weinten sie nicht; und die, welche sich freuen, als freuten sie sich nicht.“1 Eine Ehefrau hat, als hätte er sie nicht, wer nur soweit fleischlichen Trost bei ihr sucht, daß er sich nie aus Liebe zu ihr zu bösen Werken verleiten oder vom geraden Weg bessern Strebens abbringen läßt. Eine Ehefrau hat, als hätte er sie nicht, wer im Hinblick auf die Hinfälligkeit aller Dinge sich fleischliche Befriedigung nur aus Notwendigkeit gestattet, aber mit Sehnsucht die geistigen und ewigen Freuden erwartet. Es weint, als weinte er nicht, wer äußere Unglücksfälle nur so betrauert, daß er sich dabei des Trostes der ewigen Hoffnung erfreut. Hingegen freut sich, als freue er sich nicht, wer sein Herz so vom Niedrigen losmacht, daß er dabei doch nie aufhört, das Ärgste zu fürchten. Passend fügt der Apostel an jener Stelle hinzu: „Denn die Gestalt dieser Welt vergeht.“2 Damit will er sagen: Schenket der Welt keine dauernde Liebe, da sie selbst keinen Bestand hat. Vergeblich hängt ihr euer Herz an sie, als könntet ihr in ihr bleiben, während sie doch dem Vergehen geweiht ist.
Man muß die Eheleute ermahnen, das, was ihnen etwa gegenseitig aneinander nicht gefällt, in Geduld zu ertragen und durch gegenseitige Aufmunterung einander zum Heile zu verhelfen. Es steht ja geschrieben: „Traget einer des andern Last, und so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“3 Das Gesetz Christi ist nämlich die Liebe: denn aus dieser Liebe heraus hat er uns mit Wohltaten überhäuft und geduldig unsere Sünden ertragen. S. 223 Dann also ahmen wir Christus nach und erfüllen sein Gesetz, wenn auch wir unsere Güter gerne mitteilen und die Fehler unserer Nebenmenschen liebevoll ertragen. Auch muß man sie ermahnen, es solle jedes von ihnen nicht so fast darauf merken, was es am andern ertragen muß, als vielmehr, was es dem andern zu ertragen gibt. Denn wenn man an die eigenen Fehler denkt, welche andere zu ertragen haben, so trägt man leichter, was man von andern auszustehen hat.
Auch muß man die Ehegatten daran erinnern, daß sie miteinander verbunden sind, um Nachkommenschaft zu empfangen. Wenn sie also unmäßig einander sich hingeben und so das Mittel der Fortpflanzung in eine Sache der Wollust verkehren, so sollen sie bedenken, daß sie, obwohl sie die Ehe nicht brechen, doch innerhalb dieser die Eherechte überschreiten. Darum müssen sie durch viel Gebet wieder gut machen, wenn sie durch Wollust die gottgefällige Art ihrer Verbindung beflecken. Denn darum will der Apostel, in himmlischer Heilkunde wohlerfahren, nicht so fast Gesunde unterweisen, als Kranken ein Heilmittel zeigen, wenn er schreibt: „In Betreff dessen, wovon ihr mir geschrieben habt, so tut der Mensch wohl daran, kein Weib zu berühren; jedoch um Unzucht zu verhüten, möge ein jeder sein Weib und eine jede Frau ihren Mann haben.“4 Indem er seine Befürchtung wegen der Unzucht zuerst anführt, gibt er sichtlich keine Vorschrift für solche, die stehen, sondern er zeigt den Fallenden einen Halt, damit sie nicht ganz zu Boden stürzen. Darum fügt er auch für die Schwachen noch hinzu: „Dem Weibe leiste der Mann die Pflicht, gleicherweise auch das Weib dem Manne.“5 Und nachdem er bei starker Betonung der Ehrbarkeit der Ehe der Wollust etwas nachgesehen, fügte er bei: „Dies aber sage ich aus Nachsicht, nicht als Gebot.“6 Hier wird nebenbei zu verstehen gegeben, daß es keine Nachsicht geben könnte, wenn eine Schuld S. 224 vorliegen würde; sie kann aber um so leichter gewährt werden, als eigentlich nichts Unerlaubtes geschieht, sondern nur das rechte Maß im Erlaubten nicht eingehalten wird. Ein Beispiel dafür ist Loth, der aus dem brennenden Sodoma floh, aber als er nach Segor kam, nicht sogleich das Gebirge bestieg. Das brennende Sodoma flieht man, wenn man unerlaubte Fleischeslust meidet. Die Bergeshöhe bedeutet die Reinheit der Keuschen. Auch diejenigen kann man als auf dem Berge befindlich betrachten, die zwar die fleischliche Verbindung pflegen, aber außer der zur Nachkommenschaft notwendigen Verbindung keiner fleischlichen Wollust frönen. „Auf dem Berge stehen“ heißt, im Fleisch nichts anderes als die Frucht der Nachkommenschaft suchen. Auf dem Berge steht, wer nicht fleischlich dem Fleisch sich hingibt. Aber wie es viele gibt, die zwar die Sünden der Fleischeslust aufgeben, aber doch im Ehestand bei der bloßen Ausübung der Pflicht nicht stehen bleiben, so verließ Loth Sodoma, kam aber nicht ins Gebirge, d. h. das sündhafte Leben wird aufgegeben, aber die Erhabenheit ehelicher Keuschheit nicht genau beachtet. In der Mitte befindet sich die Stadt Segor, welche den Schwachen bei seiner Flucht rettet; denn wenn die Eheleute in unenthaltsamer Weise miteinander Umgang pflegen, dabei aber jedes Laster fliehen, wird ihnen Nachsicht zuteil. Sie finden hier gleichsam eine kleine Stadt, in der sie vor dem Feuer bewahrt sind, weil ein solches Eheleben zwar nicht durch Tugenden hervorragt, eine Strafe aber nicht verdient. Darum sagt Loth zu dem Engel: „Es ist eine Stadt hier in der Nähe, in diese kann ich flüchten. Sie ist klein, und ich werde mich in ihr retten. Ist sie nicht unbedeutend und werde ich nicht so am Leben bleiben?“7 Es heißt, die Stadt ist nahe gelegen und wird doch als sicherer Zufluchtsort erklärt, weil das eheliche Leben nicht weit von dieser Welt entfernt ist, aber doch auch der ewigen Freude nicht S. 225 ferne steht. Aber nur dann bringen die Eheleute unter diesen Verhältnissen ihr Leben wie in der kleinen Stadt in Sicherheit, wenn sie unablässig füreinander beten. Darum ist bedeutungsvoll, was der Engel zu Loth sagt: „Siehe, auch darin erhöre ich deine Bitte, daß ich die Stadt nicht zerstöre, für die du Fürsprache eingelegt hast.“8 Wenn also solche Eheleute zu Gott beten, wird ihr Leben nicht verdammt. Zu diesem Gebete mahnt auch Paulus, wenn er sagt: „Entziehet euch einander nicht, es sei denn mit gegenseitiger Einwilligung, auf eine Zeit, um euch dem Gebete zu widmen.“9
Diejenigen hingegen, welche von Ehebanden frei sind, muß man ermahnen, um so getreuer den göttlichen Geboten nachzukommen, als sie das Joch fleischlicher Verbindung nicht zu weltlichen Sorgen drängt. Da sie die erlaubte Bürde der Ehe nicht beschwert, soll sie nicht ein unerlaubtes Maß irdischer Sorgen niederdrücken; um so gerüsteter finde sie der letzte Tag, je freier sie sind; um so strengere Strafen würden sie verdienen, je mehr sie in ihrer Freiheit hätten Gutes tun können und es doch nicht getan haben. Sie sollen hören, wie der Apostel, als er einige zur Gnade des ehelosen Lebens einlud, die Ehe nicht gering schätzte, sondern nur die aus der Ehe stammenden Weltsorgen fernhalten wollte, indem er sprach: „Dieses sage ich jedoch zu eurem Besten, nicht daß ich euch einen Strick anlege, sondern um zu dem zu ermahnen, was wohlanständig ist und geschickt macht, ohne Hindernis dem Herrn anzuhangen.“10 Von der Ehe kommen nämlich irdische Sorgen; und darum ermahnte der Völkerlehrer seine Zuhörer zu einem höheren Stande, um sie von Erdensorgen frei zu machen. Wer also im ledigen Stande sich aus den zeitlichen Sorgen ein Hindernis macht, der hat sich zwar nicht in die Ehe begeben, ist aber von den Beschwerden der Ehe nicht frei. Auch muß man die Ehelosen ermahnen, sie sollen ja nicht glauben, daß sie, ohne der Verdammnis zu verfallen, mit S. 226 ledigen Frauenspersonen fleischlichen Umgang haben dürften. Denn Paulus stellt das Laster der Hurerei in gleiche Linie mit so vielen anderen fluchwürdigen Verbrechen und zeigt dadurch an, wie schwer sündhaft sie ist; er sagt nämlich: „Weder Hurer noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Weichlinge noch Knabenschänder noch Diebe noch Geizige noch Säufer noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes besitzen.“11 Und an einer anderen Stelle sagt er: „Die Hurer aber und Ehebrecher wird Gott richten.“12 Auch muß man sie ermahnen, den Hafen der Ehe aufzusuchen, wenn sie mit Gefahr für ihr Seelenheil unter den Stürmen der Versuchungen zu leiden haben. Denn es steht geschrieben: „Es ist besser heiraten als entbrannt sein.“13 Sie können ohne Sünde in die Ehe treten, wenn sie noch nicht durch ein Gelübde sich zu etwas Besserem verpflichtet haben. Wer nämlich in einen besseren Stand eingetreten ist, der hat sich den niederen Stand, der ihm früher erlaubt war, zu einem unerlaubten gemacht. Denn es steht geschrieben: „Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurücksieht, ist tauglich für das Reich Gottes.“14 Wer also seinen Sinn schon auf Höheres gerichtet hat, schaut rückwärts, wenn er höhere Güter aufgibt und sich auf das Niedrige beschränkt.
