Sechster Artikel. Das Verhältnis der einen Wahrheit in Gott zu den Wahrheiten, gemäß denen die Dinge wahr sind.
a) Es scheint nur eine Wahrheit zu bestehen, gemäß welcher alles Andere wahr ist. I. Augustin nämlich schreibt (14. de Trin. cap. 8.; 15. l. c. cap. 1.): „Außer Gott ist nichts größer als die menschliche Vemunft. Die Wahrheit aber ist größer wie die. menschliche Vernunft. Denn sonst würde der Mensch über die Wahrheit urteilen, wählend er thatsächlich gemäß der Richtschnür der Wahrheit urteilt.“ Gott «Mem. ist nun die Wahrheit. Also ist Er auch die einzige Wahrheit und es besteht keine andere außer Ihm. II. Anselm sagt (de verit. cap. 14): „Wie sich die Zeit zu den zeitlichen Dingen verhält, so velhält sich die Wahrheit zu den wahren Dingen.“ Es giebt aber für alles Zeitliche nur eine Zeit. Also giebt es auch nur eine Wahrheit. Auf der anderen Seite sagt der Psalmist (11,2.): „Zerteilt sind worden die Wahrheilen von den Kindern der Menschen.“
b) Ich antworte, daß in einer gewissen Beziehung nur eine Wahrheit besteht, nach deren Richtschnur alle Dinge wahr sind; in anderer Beziehung aber ist dies nicht der Fall. Wenn nämiich ein Prädikat gleichartig aus gesagt wird von vielen Dingen, so findet sich dasselbe in allen diesen Dingen gemäß seinem inneren formalen Seinsgrunde; wie z. B. das „sinnbegabt“ gleichartig, nämlich mit ganz gleichem Verständnisse, ausgesägt wird von der Gattungen „Mensch“ und „Tier“. Wenn aber etwas nur nnch einem gewissen Verhältnisse ausgesägt wird von vielen, so ist es in einem dieser vielen Dinge wohl seinem wahren formalen Seinsgrunde nach, nämlich in jenem, auf Grund dessen die anderen so benannt werden; wie das Gesunde ausgesagt wird vom tierischen Körper, von der Medizin und dem Urin. Nicht als ob die Gesundheit ihrer Natur und ihrem Wesen nach in noch etwas Anderem sich fände, wie im tierischen Körper; aber von der Gesundheit des letzteren wird die Medizin „gesund“ genannt und der Urin gleichfalls als die sie bewirkende oder die Gesundheit bezeichnende Ursache. Und obgleich nun die Gesundheit ihrer Natur nach weder in der Medizin noch im Urin sich findet, so ist doch thatsächlich in beiden etwas, welches der Grund ist, daß das eine zur Gesundheit mitwirkt, das andere sie bezeichnet. Nun ist aber bereits gesagt worden, daß die Wahrheit ohne weitere Voraussetzüng, früher wie in allem anderen, In der Vernunft sei und erst mit Beziehung darauf in den Dingen, soweit sie nämlich Beziehung haben zur göttlichen Vernunft. Sprechen wir also von der Wahrheit, soweit dieselbe gemäß ihrer Natur und ihrem inneren Seinsgrunde innerhalb der Vernunft sich findet, so sind je nach den verschiedenen geschaffenen Vernünftkräften viele Wahrheiten und ebenso sind viele Wahrheiten in einem und selben Verstande je nach den verschiedenen erkannten Gegenstanden. Und deshalb sagt die Glosse zu Ps. 11 (Augustin zur selben Stelle): „Zerstückelt sind die Wahrheiten von den Menschenkindern, weil, wie von einem menschlichen Antlitze viele Ähnlichkeiten hervorgehen in den verschledenen Spiegeln, in welchen es widerstrahlt; so von der einen göttlichen Wahrheit sich viele Wahrheiten ergeben.“ Sprechen wir aber von der Wahrheit, soweit sie in den Dingen ist, so sind sie alle wahr kraft einer Wahrheit, welcher nämlich ein jegliches Ding seiner Natur und seinem Sein nach entspricht und ähnlich ist. Und so sind wohl viele Wesenheiten der Dinge; eine aber ist die Wahrheit der göttlichen Vernunft, gemäß welcher sie alle wahr genannt werden.
c) I. Die Seele urteilt nicht nach jeglicher Wahrheit, sondern nach der ersten urteilt sie über alle Dinge, insoweit diese im Spiegel der Geschöpfe wiederstrahlt; nämlich nach den ersten Principien, die sich immer gleich bleiben. Sonach ist jedensalls diese erste Wahrheit größer als die Seele. Und doch ist auch die geschaffene Wahrheit, welche in unserer Vernunft ist, größer als die Seele; — nicht zwar unbedingt, wohl aber, insofern sie die Vollendung der Vernunft ist; wie auch die Wissenschaft größer als die Seele in dieser Beziehung genannt werden kann. Wahr aber ist es unter allen Umständen, daß von allem, was selbständiges, d. i. für sich bestehendes Sein hat, nichts außer Gott größer ist als der vernünftige Geist. Il. Der Ausspruch Anselms bezieht sich auf die Dinge, insofern sie wahr genannt werden in Beziehung auf die göttliche Vernunft.
