Nr. 9
Siehe, wenn irgend ein Rindvieh oder welches Thier immer derer, die man zur Besänftigung und Beruhigung der Wuth der Gottheiten tödtet, Menschenstimme annähme und in diesen Worten sich ausspräche: „Dieß also, o Jupiter! oder welcher andere Gott du bist, ist menschlich und recht, oder muß vielmehr für die Abschätzung einer gewissen Billigkeit gehalten werden, daß, da ein Anderer sündigte, ich getödtet werde, und du zugiebst, daß mit meinem Blute man dir genugthue, der ich dich nie beleidigte, niemals, weder wissentlich noch unbewußt, deine Göttlichkeit und Majestät verletzte; ein wie du weißt stummes Thier, folgend der Einfalt meines Instinktes und nicht beweglich nach vielfältiger Lebensweisen Verschiedenheit. Habe ich wohl jemals deine Spiele mit zu geringer Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit vollbracht? Hab' ich irgend einen Vortänzer vor dich hingeführt, der deine Göttlichkeit beleidigte? Schwur ich falsch bei dir? Hab' ich verrucht deine Geschenke entwendet und geraubt? Hab' ich die heiligsten Haine an mich gerissen oder andere geweihte Orte durch Bauten zu eigenem Nutzen entehrt und entheiligt? Was ist also Ursache, daß ein fremdes Vergehen mit meinem Blute abgewaschen und mein Leben wie meine Unschuld auf anderes Unrecht übertragen wird? Etwa weil ich ein geringes Thier bin, weder des Verstandes noch des Urtheils theilhaftig? wie die behaupten, welche sich Menschen nennen und an Wildheit die Bestien überbieten. Hat mich nicht dieselbe Natur mittelst derselben Grundstoffe erzeugt und gebildet? Ist es nicht ein und derselbe Lebensgeist, der sie wie mich führt? Athme, sehe und empfinde ich durch die übrigen Sinne nicht auf ähnliche Weise? Sie haben S. 185 Lebern, Lungen, Herzen, Eingeweide, Mägen; ist mir nicht dieselbe Menge der Gliedmaßen zugetheilt? Sie lieben ihre Erzeugung und einigen sich zur Hervorbringung von Kindern; hab' ich nicht auch Sorge für meine Nachkommenschaft und Fortpflanzung, Annehmlichkeit nach ihrer Geburt? Allein sie sind mit Vernunft begabt und drücken sich in artikulirten Formen aus; woher ist ihnen denn bekannt, daß ich, was ich thue, nicht nach meiner Einsicht vollbringe, und daß diese von mir hervorgebrachten Töne nicht Worte meines Geschlechtes sind, die lediglich unter uns verstanden werden? Befrage das Gewissen, ob es billiger sey, mich tödten, vernichten zu lassen, oder dem Menschen unentgeltlich Gnade und Straflosigkeit für die Vergehen zu schenken? Wer hat das Eisen zum Schwert gestaltet? Nicht der Mensch? Wer hat Kriegsunglück über die Völker, wer denselben die Knechtschaft gebracht? Nicht der Mensch? Wer gab und mischte den Eltern, Brüdern, Weibern, Freunden todbringende Tränke? Nicht der Mensch? Wer erfand die Zauberei oder ersann solche entsetzliche Dinge, welche man kaum in zehntausend Jahr- und Tagebüchern anzuführen im Stande wäre? Nicht der Mensch? Ist dergestalt dieß nicht grausam, nicht abscheulich, nicht schrecklich? Nicht erscheint es dir, o Jupiter! ungerecht und barbarisch, daß man mich tödte, mich niederschmettere, damit du milde werdest und den Verbrechern Unsträflichkeit zu komme? Um dieser Ursache also, das ist, damit die erzürnten Gottheiten besänftigt werden, hat man nichtiger Weise Opfer zu bringen angeordnet, da doch die Vernunft uns belehrte, daß die Götter weder jemals sich erzürnen noch auch wollen, es werde der Eine für den Anderen getödtet und Tilgung durch des Unschuldigen Blut der Anordnung von Opfern gepaart. [“]
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