Fünfter Artikel. Die heilige Wissenschaft überragt an innerem Adel alle anderen Wissenschaften.
a) Das scheint nicht so zu sein. Denn der Adel jeglicher Art Wissenschaft hängt ab I. von dem Grade der Gewißheit, die sie beanspruchen kann; und II. vom Grade ihrer Selbständigkeit. I. Was die zuverlässige Gewißheit anbelangt, so erscheinen die Philosophischen Wissenschaften in demselben Grade damit mehr ausgestattet, als ihre leitenden Grundprincipien unzweifelhaft sind, wie z. B. das Widerspruchsprincip: Von einem und demselben Dinge kann nicht zugleich und im selben Sinne Sein und Nichtsein ausgesagt werden. Die Glaubensartikel aber, also die Principien der heiligen Wissenschaft, können bezweifelt werden. I.Mit Rücksicht auf die Selbständigkeit steht eine Wissenschaft auf einer niedrigen Stufe, welche von einer anderen ihre Beweisgründe entlehnt. Letzteres thut aber die heilige Wissenschaft gegenüber den philosophischen Wissenschaften. Denn so sagt Hieronvmus (ep. 84.): „Die älteren Lehrer in der Kirche hätten ihre Bücher mit so vielen Belegstellen aus der Lehre der Philosophie angefüllt, daß du nicht weißt, was in denselben mehr zu bewundern ist, ob die Kenntnis der profanen Wissenschaften oder die der heiligen Schriften.“ Somit scheint die heilige Wissenschaft nach beiden Seiten hin tiefer zu stehen, wie die anderen. Auf der anderen Seite jedoch heißt es in den Sprichwörtern (9,5.): „Sie (die göttliche Weisheit) sandte aus ihre Mägde, damit sie den einladenden Ruf ertönen ließen, zur Burg zu kommen;“ wobei unter den „Mägden“ die Profanen Wissenschaften zu verstehen sind, die mit daran teilnehmen sollen, die Menschen zur Eroberung der festen Burg der ewigen Herrlichkeit einzuladen.
b) Ich antworte, daß die Wissenschaft, um welche es sich hier handelt, schon deshalb an Adel alle anderen, sowohl die spekulativen als die praktischen Wissenschaften, weit überragt, weil sie in ihrer Einheit das spekulative Element und zugleich das praktische in sich begreift. Denn der Adel einer spekulativen Wissenschaft bemißt sich nach der Stufe der zuverlässigen Gewißheit, auf der sie steht; und ebenso nach der Erhabenheit ihres Gegenstandes. Nach beiden Seiten steht die heilige Wissenschaft höher als alle übrigen. Denn die letzteren leiten ihre Gewißheit ab vom natürlichen Lichte der menschlichen Vernunft, die da irren kann; unsere Wissenschaft hier aber hat ihre Stütze im Lichte des göttlichen Wissens, wo ein Irrtum unmöglich ist. Aber auch der Gegenstand der heiligen Wissenschaft ist erhaben über den aller übrigen. Denn sie behandelt in erster Linie das, was kraft seiner Erhabenheit alles menschliche Denken und Begreifen übersteigt. Unter den praktischen, auf die menschliche Thätigkeit gerichteten Wissenschaften aber, steht jene höher an Würde, welche dem höheren Zwecke dient. So erkennt z. B. die Militärwissenschaft die politische als die höhere an; denn letztere verfolgt als Zweck das Wohl des gesamten Staates, während die andere zunächst nur auf das Wohl des Heeres gerichtet erscheint. Die heilige Wissenschaft aber verfolgt den ohne weiteres höchsten Zweck, die Erreichung der ewigen Seligkeit, wohin die Zweckrichtungen aller anderen Wissenschaften leiten. Also ist die heilige Wissenschaft unter allen Umständen an Adel die vornehmste.
c) Die Gegengründe widerlegen sich damit leicht. I. Der erste unterscheidet nicht zwischen der Gewißheit, insoweit sie für uns, nämlich wegen der Schwäche unseres Verständes, keine zuverlässige ist und der Gewißheit, insoweit sie an sich betrachtet in der reinsten Evidenz besteht, also in ihrer Natur die höchste Zuverlässigkeit verbürgt. „Unserem Verstände ist es ja eigen,“ sagt Aristoteles (II. metaph.), „daß er zu dem, was der inneren Natur nach am klarsten ist, in demselben Verhältnisse steht, wie das Auge der Eule zum Lichte der Sonne.“ Unser Verstand kann eben zu große Lichtfülle nicht ertragen; denn er ist an den Stoff gebunden und erkennt die Wesenheit nur, insoweit diese mitten im Stoffe ist; während die reine Erkennbarkeit um so größer wird, je mehr sie vom Stoffe sich entfemt. Nicht also, weil ihr Inhalt an sich nicht zuverlässig sei, werden Glaubensartikel bezweifelt, sondern weil die menschliche Vernunft für das reine Licht zu schwach ist. Und doch ist es nach Aristoteles mehr wert, auf der geringsten Stufe irgendwie die erhabensten Dinge zu erkennen, als die sicherste und zuverlässigste Kenntnis zu haben von den tiefsten Dingen. (11. de anima1.) II. Auch ist es durchaus nicht wahr, daß diese Wissenschaft von den philosophischen Wissenschaften etwas empfange, weil sie dessen bedürfte. Aber sie bedient sich der profanen Gelehrsamkeit, um ihre Wahrheiten dem Geiste der Hörer näher zu bringen und sie ihnen gemäß dem, was letztere bereits kennen, deutlicher zu machen. Denn sie entlehnt ihre Principien nicht der natürlichen Wissenschaft, sondern sie hat dieselben vermittelst der Offenbarung. Vielmehr gleichwie die Baukunst sich der Schreinerei und Schlosserei u. s. w. bedient, wie die Politik die Militärwissenschaft zu ihrem Zwecke gebraucht, wie die Königin ihre Mägde hat; — in diesem Verhältnisse steht die heilige Wissenschaft zu den übrigen. Sie benutzt dieselben wegen der Schwäche unseres Verstandes, der vermittelst dessen, was er an natürlichem Wissen hat, leichter befähigt wird für die Auffassung dessen, was über die Vernunft ist.
