Sechster Artikel. Die heilige Wissenschaft ist Weisheit.
a) Als Weisheit scheint die heilige Wissenschaft nicht betrachtet werden zu können. Denn: I. Keine Gattung Wissenschaft verdient diesen Namen, welche ihre Principien anderswoher entlehnt und nicht selbe aus ihrem eigenen Innern schöpft; sagt doch bereits Aristoteles (I. met. prooem.): „Dem Weisen sei es eigen, anderes zu leiten;“ also nicht, von anderem geleitet zu werden. Diese Wissenschaft aber, von der jetzt die Rede, entlehnt ihre Principien anderswoher und schaut sie nicht als evidente Wahrheiten in sich selbst. Somit darf sie nicht als Weisheit bezeichnet werden. II. Zudem gebührt es der Weisheit als jenem Erkennen, in welchem der erste Grund im Bereiche des betreffenden Wissens unmittelbar, maßgebende Richtschnur und hauptsächlicher Beweisgrund ist, die leitenden Principien der anderen untergeordneten Wissenschaften, als richtige zu erweisen; wie z. B. die Arithmetik die Grundsätze beweist, welche für die Musik maßgebend sind. Daher wird die Weisheit auch die oberste und das Haupt aller Wissenschaften genannt. (6. Eticor.) Die heilige Wissenschaft aber beschäftigt sich nicht damit, die maßgebenden Principien aller anderen Wissenschaften als richtige nachzuweisen. Sie ist also demgemäß keine Weisheit. III. Wollte man sagen, es sei hier jene Weisheit gemeint, welche zu den sieben Gaben des heiligen Geistes gehört, so hat das ebensowenig Wert für die Sache. Denn als Gabe des heiligen Geistes wird die Weisheit nicht durch langes Studium erlangt, sondern kraft Eingießens, kraft unmittelbarer Eingebung von seiten Gottes. Diese hier vorliegende Wissenschaft aber wird durch Studium gewonnen. Auf der anderen Seite heißt es jedoch Deuternom. 4, 6.: „Das ist unsere Weisheit und unser Verständnis vor den Völkern;“ und darunter wird unsere Wissenschaft hier verstanden.
b) Ich antworte, die heilige Wissenschaft sei im Vergleiche zu allen Wissenschaften im höchsten Grade Weisheit; und zwar ist sie dies ohne irgend welchen beschränkenden Zusatz und in Beziehung auf alle Arten Kenntnis. Denn dem Weisen gebührt es, zu leiten und zu urteilen; jedes Urteil aber wird gefällt nach Maßgabe einer höheren allgemeinen Ursache über das Tiefere und Beschränktere. Daher gilt im Bereiche einer einzelnen Seinsgattung jener als weise, der nach Maßgabe der höchsten Ursache in dieser Seinsgattung sein Urteil fällt. So ist im Baufache z. B. weise der Leiter des ganzen Baues, der dem Ganzen die Form giebt; er wird „Architekt“, erster oder Erstanfertiger genannt im Verhältnisse zu jenen, Welche das Holz sägen oder die Steine bereit machen. In diesem Sinne sagt Paulus: „AIs ein weiser Baumeister habe ich das Fundament gelegt.“ (I. Kor. 3.) Und ebenso wird im Bereiche des gesamten praktischen Lebens der Menschen jener ein Weiser genannt, der mit Klugheit die menschlichen Handlungen zum letzten gebührenden Zwecke hinlenkt; wie es in den Sprichwörtern heißt (prov. 10.): „Weisheit ist für den Mann Klugheit.“ Der nun aber die unumschränkt und unbedingt höchste Ursache des ganzen Alls, der also Gott als Regel und Richtschnur betrachtet, wird natüllich auch ohne Beschränkung auf eine gewisse Seinsgattung, er wird unbedingt im höchsten Grade ein Weiser genannt werden müssen; so daß Augustinus die Weisheit kurz als „Kenntnis der göttlichen Dinge“ bezeichnet. (12. de Trin. 14.) Die heilige Wissenschaft nun hat zum unmittelbaren Gegenstande eben Gott, insoweit Er die höchste Ursache ist; und zwar nicht nur als ein durch die Kreaturen erkennbares Wesen, wie dies bei den Philosophen der Fall ist und wie dies Paulus (Röm. 1.) ausdrückt: „Was von Gott aus den Geschöpfen heraus bekannt ist, ist ihnen offenbar,“ — sondern als ein in Sich selber erkanntes und begriffenes Sein, insofern Gott Sich selber erkennt und anderen diese Kenntnis von Sich offenbart. Deshalb muß die heilige Wissenschaft im höchsten Grade Weisheit sein.
c) I. Auf den ersten Gegengrund genügt es deshalb zu erwidern, daß allerdings die heilige Wissenschaft keine in sich evidenten Principien hat und dieselben anderswoher entlehnt. Aber dieses „Anderswoher“ ist kein natürliches oder menschliches Wissen; sondern unmittelbar das rein göttliche. Das göttliche Wissen aber ist eben der erste und höchste Grund aller anderen Arten von Kenntnis. Also die Wissenschaft, die daraus ihre Principien schöpft, muß ohne weiteres im höchsten Grade Weisheit sein. II. Der zweite Grund übersieht ebenfalls diesen Unterschied zwischen den Eigentümlichkeiten göttlicher und menschlicher Wissenschaft. Bei der letzteren nämlich tritt allerdings der Fall ein, daß jene Wissenschaft, deren maßgebende Principien nicht aus sich selber evident sind, ihre Principien von einer anderen höheren her entlehnt, welche da, in der höheren, strikte bewiesen werden; wie z. B. die Arithmetik die Richtigkeit der Principien für die Musik beweist. Der heiligen Wissenschaft aber ist ganz und gar und ausschließlich der Umstand eigen, daß ihr die maßgebenden Principien und der formale Beweisgrund nicht durch die natürliche Vernunft vermittelt werden, sondern durch thatsächliche Offenbarung. Ihr gehört es deshalb nicht zu als de, höheren, die Principien aller anderen Wissenschaften zu beweisen; sondern über sie kraft der thatsächlichen Offenbarung zu urteilen. Was nämlich in allen anderen Wissenschaften der in dieser, in der heiligen Wissenschaft, erfaßten Wahrheit widerstreitet, das alles wird als falsch verworfen. Deshalb sagt der Apostel (II. Kor. 10.): „Wir zerstören alle Ratschlüsse und jede Höhe, die sich erheben möchte gegen die Wissenschaft Gottes.“ III. Das Urteil gebührt freilich dem Weisen. Es kann dasselbe aber in doppelter Weise betrachtet werden. Jemand kann nämlich urteilen auf Grund seiner Hinneigung. So urteilt jener, der vollkommen eine Tugend besitzt, über alles das richtig, was gemäß jener Tugend gethan werden soll. Deshalb sagt Aristoteles: „Der Tugendhafte ist das Maß und die Richtschnur der menschlichen Handlungen.“ (10. Ethic. c. 3.) Ferner urteilt auch jener, welcher die gehörige Kenntnis besitzt; wie z. B. derjenige, der die Moralwissenschaft kennt, über die Akte der betreffenden Tugend bestimmen kann, auch wenn er dieselbe nicht selber im Besitze hat. Die erste Art zu urteilen gebührt jener Weisheit, welche von Gott eingegossen wird und ist das donum Spiritus sancti, die Gabe der Weisheit; von ihr sagt Paulus: „Der geistige Mensch beurteilt alles“ (I. Kor. 2.), und Dionysius (12. de div. Nom.): „Hierotheus hat nicht nur die göttlichen Dinge gelernt, sondern auch erlitten,“ d.h. „erfahren“. Die zweite Art zu urteilen aber gebührt jener Weisheit, welche durch Studium erworben wird und deren Principien geoffenbart sind.
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