Siebenundsiebzigstes Kapitel. Die Vermögen der Seele im allgemeinen. Überleitung.
„Du aber, mein Führer und mein Freund; süße Speisen hast Du mit mir gegessen; im Hause Gottes sind wir einträchtig gewandelt.“ (Ps. 54.) So beschreibt der Psalmist von Gott erleuchtet die innige trostreiche Gemeinschaft der Seele und des Leibes. Thomas hat sie uns eben in tiefster Betrachtung nach allen Seiten hin vorgelegt. Oder wer ist denn dieser „Führer“ beim Psalmisten anders als der Leib mit seinen Sinnen! Thomas hat es oben erklärt, wie die Seele von Natur keine einzige Kenntnis mit sich bringt; wie sie angewiesen ist auf die sichtbare Natur, um unter Mühe und Beschwerde ihr Erkenntnisvermögen mit den glänzenden Perlen des Wissens zu schmücken. Deshalb gerade ist sie mit dem Leibe eins geworden, daß der Körper mit seinen Sinnen sie herumführe in der sichtbaren Schöpfung Gottes, daß sie sammle die hellleuchtenden Krystalle, in denen Gottes Güte durchscheint und daß sie so in sich selber die süßen Speisen bereite, in denen „geschmeckt wird, wie süß der Herr sei“. Alle Kenntnis fängt für den Menschen von den Sinnen an; sie also führen ihn zuerst, damit er seinerseits dann auch sie erquicke und leite. Denn „Freund“ wird der Körper genannt! Und welch ein inniger Freund! Hier ist wahrhaft ein Herz und eine Seele. O, daß man doch nie gesucht hätte, diese innige Einheit zwischen Leib und Seele zu zerstören oder auch nur im geringsten zu lockern. Da erscheint so recht, in dieser Einheit, die überfließende Güte Gottes; sie erscheint da sozusagen vor aller Augen für den, welcher sehen will. Der Körper ist, er lebt, er ist Sitz der Empfindungen, er leistet Geburtshilfe, um mit Plato zu reden, sogar bei der Erzeugung der geistigen Ideen. Von welcher Niedrigkeit aus ist er so hoch erhoben! O wahrlich: „Er hat vom Staube erweckt den Hilflosen und ihn gesetzt auf einen Thron neben Fürsten, neben Fürsten seines Volkes.“ Der arme hilflose Stoff, das reine bloße Vermögen etwas zu werden, es ist erhoben worden durch alle Stufen des Seins und der Würde hindurch bis zu den Thronen der Engel, bis zur höchstmöglichen Teilnahme an der Vernunft. Wer erhebt es in seinem Innern selber so hoch? Die Seele. Behalten wir recht tief die Worte des Engels der Schule: „Nichts ist im Stoffe, was nicht sein Sein erhielte von der Seele; selbst das Vermögen des Stoffes erhält, soweit es im Menschen ist, sein Sein von der Seele.“ Warum? Thomas sagt es desgleichen: „Weil Gott als wirkende Ursache Stoff und Form verbindet.“ Daher kommt die große Macht der Seele, vermöge deren sie im ganzen Bereiche des Stoffes für ihr natürliches Einwirken und Formen kein Hindernis findet. Mit Ehrfurcht entkleidet sich der Stoff all seiner Formen, auch der allerniedrigsten; nicht nur der Form der Sinne, nicht nur der für Wachstum und Nahrung, sondern auch jeglicher Eigenschaft, selbst der Ausdehnung, des Lichtes und der aller anderen einfachen Elemente; nackt kommt er vor die Seele, ganz nackt, damit er da alles wieder erhalte und noch mehr! Wie muß dieser Körper an der Seele hängen, der er sein ganzes Sein verdankt! Wie groß muß nicht die Einheit und Innigkeit sein, die Leib und Seele verbindet! Die Seele giebt dem Stoffe Sein, sie nimmt ihn auf in ihr eigenes Sein; sie läßt ihn teilnehmen an ihrer Ehre. Der Stoff aber führt nun mit einem solchen Sein ausgestattet die Seele durch die sichtbare Schöpfung und zeigt da die Farbenpracht am Firmamente; weist dort auf den lieblichen Gesang der Vögel, auf das Heulen des Sturmes, auf das Grollen des Meeres; er läßt kosten die Süßigkeiten der sichtbaren Speisen, riechen den Balsamduft der frischen Wiesen, fühlen die erfrifchende Luft; er schlägt vor seinem Freunde das Innere der ihm so nahe verwandten Geschöpfe, soweit er nur kann, wie ein herrliches Buch auf; er eröffnet den weitesten Tummelplatz für die Phantasie, wo beinahe die Bilder der unsichtbaren wenn auch beschränkten Geistgewalten durchzuleuchten scheinen, die unter dem ersten Lenker alles Stofflichen die innere beschränkte Form den Kreaturen verleihen. Wahrlich „mein Führer und mein innigst gekannter Freund“! Das Ergebnis eines solchen Liebesbundes kann nicht fehlen. „Herz und Fleisch jubeln zum lebendigen Gotte hin.“ Aus den süßesten Betrachtungen der Macht und unendlichen Güte des Schöpfers, der, selber die Liebe, diesen Freundschaftsbund geschlossen und gesegnet hat, strömt erfrischender Lebenstau in den Leib. „Der kalte Schnee des armen Stoffes wird da zur warmen wollenen Decke; der finstere Nebel der Natur verdeckt das Feuer der göttlichen Liebe, wie Asche das Feuer erhält und bedeckt.“ (Ps. 147.) Denn Gott hat die Strahlen seiner Güte in die Seele leuchten lassen. Gott selbst streut diese Asche der stofflichen Bilder aus zum Schutze seiner innersten heilsamen Wirkungen im Menschen, welche kein Geschöpf mit natürlichen Kräften wahrnehmen kann. Wir müssen, um uns zu erbauen und zugleich die Täuschungen der materialistischen Wissenschaft darzuthun, den ganzen Thomas annehmen. Zwei Extreme liegen in diesem Punkte vor. Das eine besteht darin, daß man meint, das Leben sei das Ergebnis stofflicher Kräfte, wie das Leuchten das Ergebnis des Lichtes ist; das andere besteht darin, das Leben oder das Lebensprincip sei eine Substanz oder eine Eigenschaft, die zum bereits bestehenden, zum fertigen Stoffe hinzutrete, wie Wasser zum Wein, wie Zinn zu Kupfer und so den Menschen herstelle. Der Körper lebt selber. Nichts ist in ihm, was nicht vom Lebensprincip käme. Alles, was er thatsächlich ist, hat eben seine Thatsächlichkeit in dem Lebensprincip, in der Seele. Das kann nicht unbeschränkt genug geltend gemacht werden. Kein Atom, keine Eigenschaft, kein Zustand besteht im Menschen, dessen thatsächliches Sein nicht die Seele wäre: actus corporis nennt sie kurz Thomas. Das Gold leuchtet! Leuchtet es von sich aus? Dann würde es immer, auch im Dunklen leuchten. Nein; es leuchtet im Sonnenlichte und kraft desselben. Daß es leuchtet und glänzt, das kommt ganz und gar vom Lichte der Sonne. Setzen wir an die Stelle des Leuchten das thatsächliche Sein, an Stelle des Goldes den Stoff, so wird gesagt: Alles, was im Körper bestimmterweise und thatsächlich ist, das kommt von der formenden Kraft der Seele. Daß aber das Gold gelb oder rot leuchtet, das kommt von der Eigentümlichkeit des Goldes. Das Leuchten fügt nicht das Geringste zu diesem Gelb-Roten hinzu; wohl aber läßt es dasselbe erscheinen. Tritt in ein großes Eisenwerk zu einer Zeit, wo alles still steht und tritt dann wieder hinein zu einer Zeit, wo alles in Thätigkeit gesetzt ist. Wirst du einen Unterschied wahrnehmen? Nach einer Seite, ja; nach einer anderen Seite, nein. Die Lage der Maschinen ist dieselbe; ihre Zusammenstellung im einzelnen ist dieselbe; der Zweck einer jeden ist derselbe; kein Häkchen ist hinzugekommen, keines hinweggenommen; jedes Rädchen ist an seinem Platze. Nichts ist da verändert. Und doch ist es wieder ganz anders! Es hämmert, es klopft, es dreht, es zieht, es schraubt, da geht's hinab dort hinauf; alles greift ineinander. Nun erscheint es erst; warum dieses Rad da ist, jenes dort, wozu jenes Zahnwerk da dient; im allgemeinen welchen Zweck und Nutzen jedes Einzelne hat. Was vorher als überflüssig erschien, das zeigt jetzt, wozu es vorhanden ist. Was ist hinzugetreten? Der Anstoß zur Bewegung. Dieser Anstoß fügt keine neue Maschine zu den bereits vorhandenen hinzu; aber er dient dazu, die zweckmäßige Thätigkeit zu vermitteln. Das Lebensprincip ist nicht der Kreislauf des Blutes, nicht die Thätigkeit der Sinne, nicht das Wachstum des Körpers; nicht mit einem Worte die verschiedenartige Zusammensetzung der betreffenden Dinge selber. Wer nach dem Lebensprincip fragt, der fragt allein nach dem leitenden Anstoß zur Bewegung und im weiteren Sinne zur Thätigkeit. Dieser Anstoß ist nun im Dinge selber. Daß der einzelne Mensch seinem Wesen nach vernünftig und sinnbegabt; daß an das Auge das Vermögen zu sehen gebunden, an das Ohr das des Hörens, an die Zunge das des Sprechens; daß der Stoff seiner Natur nach ausgedehnt ist; das kommt nicht von der Seele, das kommt von der Natur dieser Fähigkeiten. Aber daß nun dieses Auge wirklich sieht und in Wirklichkeit sehen kann; daß dieser Mensch nun wirklich geistigerweise erkennt und das entsprechende Vermögen gebrauchen kann; daß der Körper nun wirklich diese bestimmte Ausdehnung hat und danach sich weiter entwickeln kann; — alles also, was die Natur dieser Vermögen als eine einheitliche dauernde im einzelnen Falle offenbart, das ist vom Lebensprincip, von der Seele. Noch mehr! „Ein Eisenteilchen,“ schreibt Dubois-Reymond, „ist und bleibt zuverlässig dasselbe Ding, gleichviel ob es im Meteorsteine den Weltkreis durchzieht, im Dampfwagenrad auf den Schienen daherschmettert oder in der Blutzelle durch die Schläfe eines Dichters rinnt. Diese Eigenschaften sind von Ewigkeit; sie sind unveräußerlich, unübertragbar.“ Nun gerade diese Dauer und Unverrückbarkeit wird vorausgesetzt vom Lebensprincip; gerade diese Natur eines jeden Elementes und einer jeden Kraft, gerade die Unwandelbarkeit all dieser Eigenschaften wendet die Seele an, bethätigt sie, offenbart sie. Ehe der Stern beginnen kann, sich zu bewegen, muß er fertig sein, muß er vollendet sein; ehe der Wagen zum Fahren benutzt werden kann, muß er seine Eigentümlichkeiten in dauernder Weise besitzen, die Bewegung ist eben ein Zeichen von dieser Vollendung. So auch ähnlich die Seele. Fern davon etwas in den natürlichen Eigentümlichkeiten der Elemente, des Eisenteilchens, des Wasserstoffs u. s. w., oder in dem Wesen des Auges, des Gefühls, in der Natur der Vernunft und des Erkenntnisgegenstandes zu ändern, hinzuzufügen oder hinwegzunehmen; wird dies alles in seiner bestimmten Thatsächlichkeit durch das Lebensprincip, die Seele, erst gezeigt, erprobt, geoffenbart. Die Seele erhöht die Selbständigkeit all dieser Kräfte. Ist das „Eisenteilchen“ Dubois' im Rade, so kann es leicht Gewalt leiden von außen her. Aber im lebenden Körper hat es das bewahrende und erhaltende Princip bei und mit sich; nach allen Seiten zeigt es seine Kraft, selbst nach der Gesundheit hin, wo sonst seine Kraft eine latente war. Aber das geschieht deshalb, weil die Seele eben bis in das tiefste Vermögen der Elemente hineinreicht und so alles in ihnen zu bestimmtem, thatsächlichem Sein bringt, was andere ganz und gar außenliegende Kräfte nicht vermochten. Sie weckt auch das schlummernde Vermögen. Oder wie Thomas oben sagte, „die Seele schließe in sich alle Vollendung der übrigen niedrigeren Formen und noch etwas mehr.“ Und ganz besonders zeigt die Seele im Urstoffe, den sie belebt, das Vermögen, gemäß dem er aus sich dem thatsächlichen Sein nach nichts ist, und daß alles, was mit ihm irgendwie eins wird, an dieser Natur teilnimmt; daß es Gott gegenüber nur werden kann, nur bestimmbar ist. Da ist die tiefste Quelle der Eintracht zwischen Leib und Seele. Die Seele bringt von Natur keine Kenntnis mit; sie ist offen für alles. Der Stoff bringt von Natur keine Bestimmung, keine Bestimmtheit mit; er ist offen für alles. Gott vereinigt. Die Güte Gottes allein kann da, gleichsam so recht sichtbar, die Bestimmung verursachen, weil sie weder von der Natur der Seele noch von der Natur des Stoffes kommen kann. „Im Hause Gottes wandelten wir in Eintracht.“ Nach Gottes Bestimmung führt der Stoff herum in der ihm vertrauten sichtbaren Welt. Nach Gottes Bestimmung speist den Stoff die Seele mit immer lebendigem Sein. Gott, nämlich seine wirkende Kraft, ist mitten zwischen Leib und Seele, so lange der Leib der Seele dient und die Seele für das wahre Wohl des Leibes sorgt. Zwiespalt zwischen Leib und Seele; Lockerung der Freundschaft zwischen beiden kann nur das höchste Verderben beider sein. Der Leib entfernt sich dann von seinem Sein, von seinem Leben, von der Richtschnur seiner Thätigkeit und seines Wohles; — die Seele entfernt sich von ihrer Freude, von der Süßigkeit ihrer Nahrung, vom Frieden. Denn in beiden waltet nicht mehr „die einigende Ursache“, wie Thomas sagt, die göttliche Güte. Die Schöpfung ist nicht mehr „das Haus Gottes“. Nicht mehr bewahrheitet sich das Wort Habakuks (3.): „Deine Werke habe ich betrachtet und stumm bin ich geworden; zwischen zwei Tieren habe ich Dich erkannt.“ Zwischen der sinnlichen Welt in uns, dem einen Tier; und der sinnlichen Welt außer uns, dem anderen Tier, erkennen wir Gott. Und es schweigen die vorlauten Stimmen der Leidenschaften, bis Gott es ihnen erlaubt zu sprechen, wenn wir so recht im wahren Sinne, so nämlich wie Gott die Einigung zustande gebracht, zu unserem Leibe sagen können: „Du mein Führer und mein Freund; der du mit mir süße Speisen nahmest; im Hause Gottes wandelten wir in Eintracht.“
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