Zweiter Artikel. In der Seele sind mehrere Vermögen.
a) Nur ein Vermögen scheint der Seele zuzukommen. Denn: I. Die vernünftige Seele ist Gott ähnlich und trägt sein Bild. In Gott aber ist ein durchaus einfaches Vermögen. II. Je höher eine Kraft steht, desto mehr ist sie geeint. Die Seele aber ist unter allen Formen im Stoffe die höchste. Also hat sie nur ein Vermögen. III. Wirken gehört dem zu, was thatsächliches Sein und insoweit es dasselbe hat. Vermittelst ein und derselben Seele aber hat der Menscht hatsächliches Sein gemäß den verschiedenen Seinsstufen. Also wirkt er auch durch nur ein Vermögen. Auf der anderen Seite nimmt Aristoteles (2. de anima) mehrere Vermögen für die Seele an.
b) Ich antworte, daß notwendigerweise mehrere Vermögen die menschliche Seele besitzen muß. Denn, wie Aristoteles sagt (2. de caelo), können die niedrigst gestellten Dinge ein vollendetes Gut überhaupt nicht erreichen. Die unvollkommene und mangelhafte Vollkommenheit aber, deren sie fähig sind, erreichen sie mit wenigen Bewegungen oder mit geringer Anstrengung. Die jedoch über diesen Dingen in der Seinsstufe stehen, sind fähig, das vollendete Gut zu erreichen; sie bedürfen jedoch vieler Bewegungen oder großer Mühen und mannigfachster Thätigkeiten. Über diesen stehen nun wieder andere Seinsarten, welche zum Besitze des vollendeten Gutes gelangen und zwar mit wenigen Bewegungen oder geringer Thätigkeit. Die höchste Vollendung aber besteht darin, daß ein Sein das vollkommenste Gut hat und ist, ohne daß es, um es zu erreichen, irgend welcher Thätigkeit bedurft hätte. So z. B. hat jener im geringsten Grade Beziehung zur Gesundheit, welcher nur eine schwache Gesundheit überhaupt haben kann und dazu weniger Heilmittel bedarf, um sie aufrecht zu halten. Höher aber steht nach dieser Seite hin jener, der vollkommener Gesundheit teilhaft werden kann, aber nur mit Hilfe vieler Heilmittel. Den höchsten Grad jedoch nimmt darin jener ein, welcher eine vollendete Gesundheit besitzt. Die Seinsarten also unter dem Menschen können nur beschränkte Güter erreichen; und deshalb haben sie einige wenige völlig in sich abgegrenzte Thätigkeiten und Vermögen. Der Mensch aber kann das vollendete Allgut besitzen; er steht jedoch auf der niedrigsten Stufe unter jenen Wesen, welche der übernatürlichen Seligkeit teilhaft werden können und deshalb bedarf er dazu vieler Vermögen und Thätigkeiten; während die Engel deren weniger notwendig haben. Gott allein ist dem Wesen nach von vornherein seine eigene Vollendung. Zudem findet sich die Seele auf der Grenze der rein geistigen und rein stofflichen Naturen und vereinigt deshalb die Vermögen beider in sich.
c) I. Gott ist darin die Seele ähnlich, daß sie Ihn besitzen kann als das vollendete Gut, wenn auch vermittelst vieler Thätigkeiten. II. Die geeinte Kraft ist höher, falls der Gegenstand, auf den die vielfältige und die geeinte Kraft sich erstreckt, der gleiche ist. Dagegen ist es besser und vollkommener, viele Kräfte zu haben, und damit Höheres zu erreichen. III. Mit der einen einfachen Sache besteht ein substantiales Sein und viele Thätigkeiten; somit also auch viele Vermögen, da nach Maßgabe der verschiedenen Thätigkeiten verschiedene Vermögen angenommen werden müssen.
