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[Forts. v. S. 53 ] Ich spreche noch nicht von dem inneren, seelischen Kampfe, den wir Tag und Nacht versteckt und offen zu kämpfen haben wegen des „nichtigen Körpers1“, wegen der Sinnlichkeit und der Lüste dieses Lebens, welche uns erregen, auf und nieder werfen und nicht zur Ruhe kommen lassen, wegen des Erdenschmutzes, in dem wir stecken, wegen des Gesetzes der Sünde, das gegen das Gesetz des Geistes streitet2 und das königliche Ebenbild in uns und alles, was von Gott uns zugeflossen ist, zu zerstören sucht. Daher wird einer nur mit Mühe über die niederziehende Macht der Materie die Herrschaft behalten, mag er auch in langer Beschäftigung mit der Philosophie sich erzogen haben und den edlen, lichten Teil der Seele allmählich von dem niederen, an die Finsternis gebundenen losgerissen haben, oder mag er der Barmherzigkeit Gottes teilhaftig geworden sein, oder mag er beides zugleich erreicht haben, und mag er sich möglichst viel Mühe geben, den Blick nach oben zu lenken. Nach meinem Dafürhalten ist es nicht ungefährlich, die Seelsorge oder die Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, was wohl Aufgabe des Priesters ist, zu übernehmen, noch ehe man die Materie so weit als möglich bezwungen, die Seele genügend gereinigt und sich Gott mehr als die anderen genähert hat.
