Sechster Artikel. Die vorherbestimmung schließt die zuverlässigste Gewißheit in sich ein.
a) Dagegen scheint sich die heilige Schrift auszusprechen, die besagt: I. „Bewahre, was du hast, damit nicht ein anderer dein Krone erhalte.“ (Apocal. 3, 11.) Dazu bemerkt Augustin: „Ein anderer wird die Krone nicht erhalten, wenn der eine sie nicht verloren hat.“ (De corr. et gratia c. 13,) Die Krone, also die Wirkung der Vorherbestimmung, kann gewonnen und verloren werden. Somit ist die letztere nicht gewiß. II. Wenn etwas, was möglich ist, vorausgesetzt wird; so folgt nicht etwas Unmögliches. Möglich aber ist, daß ein Vorherbestimmter, z. B. Petrus, sündigt und in der Sünde oder gleich darauf getötet wird. Da also damit die Wirkung der Vorherbestimmung vereitelt würde, so ist es gar nicht unmöglich, daß die Ausführung der Vorherbestimmung ein Hindernis finde und somit ist letztere nicht gewiß. III. Was Gott gekonnt hat, das kann Er noch. Er konnte aber jemanden nicht vorherbestimmen, den Er vorherbestimmt hat. Also kann Er auch jemanden, der vorherbestimmt ist, nicht vorherbestimmen. Auf der anderen Seite sagt die Glosse aus Augüstin (2. de dono perse. c. 14. zu Rom. 8.: Quos praescivit): „Die Vorherbestimmung ist das Vorherwissen und das Vorbereiten der Wohlthaten Gottes, wodurch jene, welche befreit werden mit dem höchsten Grade der Gewißheit befreit werden.“
b) Ich antworte, daß die Vorherbestimmung ganz sicher und unfehlbar ihre Wirkung hat, obgleich sie keine solche Notwendigkeit aufprägt, daß etwa die Wirkung in der Weise folgte, als ob sie nicht anders sein könnte. Denn die Vorherbestimmung ist ein Teil der Vorsehung. Nicht aber alles, was der Vorsehung unterliegt, geschieht mit Notwendigkeit; sondern manches geschieht gemäß den Ursachen, welche die Vorsehung vorhergeordnet und angepaßt hat, in der Weise, daß es mit Rücksicht auf diese Ursachen auch nicht oder anders geschehen könnte. Nichtsdestoweniger ist jedoch die Anordnung der göttlichen Vorsehung unfehlbar sicher, wie Kap. 22, Art 4 gezeigt worden. So hat also die Wirkung der Vorherbestimmung unbedingte Sicherheit; und doch wird die Freiheit des Willens nicht aufgehoben, vermittelst deren die Wirkung der Vorherbestimmung mit Freiheit geschieht. Dabei ist zu vergleichen, was oben über das göttliche Wissen und über das göttliche Wollen gesagt worden ist. Beides ist im höchsten Grade gewiß und unfehlbar; und doch wird dadurch von den Dingen die Zufälligkeit nicht entfernt. I. Die „Krone“ gehört jemandem in doppelter Weise: Einmal infolge der göttlichen Vorherbestimmung; — und so verliert niemand seine Krone. Dann infolge der Gnade. Was wir nämlich verdienen, ist gewissermaßen unser; — und so kann jemand seine Krone verlieren durch die darauffolgende Todsünde. Ein anderer aber erhält die Krone, welche der erste verloren, insofern ein anderer an seine Stelle tritt. Denn Gott erlaubt nicht, daß einzelne fallen, ohne daß Er andere aufrichtet gemäß den Worten bei Job 34, 24.: „Zerschmettern wird er viele und ohne Zahl: und andere wird Er anstatt deren aufrichten.“ So sind an die Stelle der fallenden Engel die Menschen getreten und an die Stelle der Juden die Heiden. Der aber im Reiche der Gnade in dieser Weise an die Stelle eines anderen tritt, erhält auch insofern die Krone des anderen, so daß er über das Gute, was der andere gethan hat, in der Ewigkeit sich freuen wird, in welcher jeder sich freut sowohl über das Gute, was er selber gethan, wie auch über jenes, was andere gethan haben. II. Es ist wohl an sich moglich, daß ein Vorherbestimmter in der Todsünde sterben kann; es ist aber unmöglich, in der gemachten Voraussetzung, nämlich daß er vorherbestimmt sei. III. Es ist bereits Art. 4 gesagt worden, daß was Gott wolle, notwendig sei. Aber es ist dies keine unbedingte Notwendigkeit, wie die, daß 2 + 2 ═ 4 sei; sondern Notwendigkeit ist es unter einer gewissen Voraussetzung, nämlich der, daß der Wille Gottes unveränderlich ist. Deshalb darf man nicht sagen, Gott könne einen nicht vorherbestimmen, den Er vorherbestimmt hat, in dem Sinne, aIs ob beides zusammen sein könne (in sensu composito): das thatsächliche Vorherbestimmen und das thatsächliche Nichtvorherbestimmen. Wohl aber ist es erlaubt zu sagen, es war Gott möglich, vorauszubestimmen oder nicht vorauszubestimmen; wodurch jedoch die Gewißheit der Vorherbestimmung nicht genommen wird.
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