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Ich möchte gerne wissen – d.h. besser wüsste ich es nicht –, in welch geistiger Umnachtung Faustus jene Stelle las, in der Jakob seine Söhne zu sich rief und ihnen sagte (gen. 49,1 f.): *Versammelt euch, damit ich euch verkünde, was euch in den letzten Tagen widerfahren wird; versammelt euch und hört, Söhne Jakobs; hört Israel, euren Vater!
Gewiss bezweifelt niemand, dass hier die Gestalt des Propheten in den Vordergrund gerückt ist. Hören wir also, was er seinem Sohn Juda sagt, aus dessen Stamm Christus kommt, aus der Nachkommenschaft Davids dem Fleisch nach, wie es die Lehre des Apostels bezeugt (cf. Rm. 1,3). Er sagte da (gen. 49,8 ff.): Juda, preisen sollen dich deine Brüder; deine Hand wird auf dem Genick deiner Feinde ruhen; es werden deines Vaters Söhne vor dir niederknien; das Junge eines Löwen ist Juda, ich habe ihn als Sohn gezeugt; aufgestiegen bist du und hast dich zurückgelehnt; du hast geschlafen wie ein Löwe und wie das Junge eines Löwen; wer wird ihn aufwecken? Immer wird es einen Herrscher aus Juda geben, immer einen Führer, der aus seinen Lenden stammt, bis dann kommt, was für ihn beiseite gelegt ist; und er selbst, die Sehnsucht der Heidenvölker, wird sein Füllen an einen Weinstock binden und dem Eselsfohlen eine Ziegenhaardecke umbinden; er wird sein Kleid im Wein waschen und im Rebenblut sein Gewand; funkelnd werden seine Augen sein vom Wein und die Zähne weisser als Milch*.
Als Fälschung will ich das alles betrachten, als undurchschaubares Dunkel, wenn es nicht durch Christus in klarstes Licht getaucht wurde;
wenn seine Brüder, die Apostel, und alle seine Miterben ihn nicht preisen, und dabei nicht ihre eigene, sondern Christi Ehre suchen;
wenn seine Hand nicht auf dem Genick seiner Feinde ruht;
wenn nicht alle, die sich ihm noch widersetzen, durch die wachsende Grösse der christlichen Völker niedergedrückt und zur Erde gebeugt werden;
wenn nicht die Söhne Jakobs in Gestalt jener geringen Zahl von Treugebliebenen (361,10), die durch die Auswahl der Gnade gerettet wurden, vor ihm niederknieten;
wenn Christus nicht das Löwenjunge ist, da er ja durch seine Geburt ganz klein geworden ist. Deshalb folgt der Zusatz: Ich habe ihn als Sohn gezeugt. Damit ist nämlich begründet, warum Christus das Löwenjunge ist, zu dessen Lob es an anderer Stelle heisst (prov. 30,30): Das Junge des Löwen ist stärker als das Vieh, d.h. als ganz Kleiner ist er stärker als die, die grösser sind als er;
wenn er nicht das Kreuz bestieg und sich dort zurücklehnte, als er das Haupt neigte und seinen Geist aufgab (cf. Joh. 19,30);
wenn er nicht wie ein Löwe schlief, da er ja auch im Tod nicht besiegt wurde, sondern siegte, und wenn er nicht wie ein Löwenjunges schlief, da er in der selben Natur starb, in der er auch geboren wurde;
wenn nicht jener ihn von den Toten auferweckte, den kein Mensch gesehen hat, noch je sehen kann (I Tim. 6,16); in den Worten: wer wird ihn aufwecken?, ist nämlich deutlich genug gleichsam ein Sinnbild für das Unbekannte ausgedrückt;
wenn es einmal keinen Herrscher aus Juda gab und keinen Führer, der aus seinen Lenden stammte, bis dann zur rechten Zeit kam, was verheissen, also gleichsam beiseite gelegt war. Es gibt nämlich absolut verlässliche Texte auch aus der jüdischen Geschichtsschreibung, aus denen klar hervorgeht, dass Herodes der erste fremdstämmige König im Judenvolk war, und zwar in der Zeit, als Christus geboren wurde (cf. Mt. 2,1). Also fehlte nie ein König aus der Nachkommenschaft Judas, bis dann kam, was für Christus beiseite gelegt war;
doch da ja nun nicht nur den gläubigen Juden zu Nutzen sein sollte, was verheissen war, sieh, was folgt: Und er selbst, die Sehnsucht der Heidenvölker, er selbst band sein Füllen, d.h. sein Volk, an den Weinstock, indem er im Ziegenfellgewand predigte und ausrief (cf. Mt. 3,2): Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe. Das Volk der Heiden aber, das sich ihm unterwarf, sehen wir hier im Vergleich mit dem Eselsfohlen, auf dem ja der Herr sass, als er es nach Jerusalem führte, d.h. zum Anblick des Friedens (cf. Mt. 21,5;Lk. 19,35), und dabei die Sanftmütigen seine Wege lehrte; wenn er sein Gewand nicht im Wein wäscht; damit ist die glorreiche Kirche gemeint, die er herrlich vor sich erscheinen lässt, ohne Flecken und Falten (cf. Eph. 5,27), und zu der auch Isaias sagt (Is. 1,18): Sind auch eure Sünden rot wie Purpur, ich werde sie weiss machen wie Schnee. Wie denn anders als durch den Nachlass der Sünden? In was für einem Wein also, wenn nicht in jenem, von dem gesagt ist (Mt. 26,28), dass es für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden? Er selber ist nämlich die Weintraube, die an einer Holzstange hing (cf. Num. 13,23). Beachte deshalb auch, was der Prophet hier beifügt: und im Rebenblut sein Gewand; wenn schliesslich seine Augen vom Wein funkeln, so erkennt man darin jene Glieder in seinem Körper, denen es gegeben ist, gleichsam in der heiligen Trunkenheit geistiger Entrückung von den zeitlichen Dingen aus, die hier unten dahingleiten, das ewige Licht der Weisheit zu betrachten. Damit zusammenhängend haben wir kurz vorher einen Satz des Paulus zitiert (p. 355,21/ II Kor. 5,13): denn wenn wir von Sinnen waren, geschah es für Gott. Dies sind die Augen, die vom Wein funkelten. Da aber der Apostel fortfährt: wenn wir aber besonnen sind, geschieht es für euch, werden auch die Kleinen nicht unbeachtet gelassen, die noch mit Milch zu ernähren sind; denn auch hier (gen. 49,12) heisst es anschliessend: und die Zähne sind weisser als Milch.
