1.
Faustus sagte: Warum anerkennt ihr die Propheten nicht? Sag besser du zuerst, warum wir die Propheten anerkennen sollten, falls du einen Grund findest! Weil sie, sagte er, Christus zum voraus bezeugt haben. Ich habe allerdings davon nichts gefunden, obwohl ich ihre Bücher recht aufmerksam und mit grösster Neugier gelesen habe. Allerdings ist schon dies ein Eingeständnis kraftlosen Glaubens, wenn man Zeugen und Beweise braucht, um an Christus glauben zu können. Seid nicht ihr es, die immer wieder darauf hinweisen, man dürfe nicht zu wissbegierig nachforschen, denn der christliche Glaube solle vorbehaltlos und einfach sein. Warum also zerstört ihr jetzt diese Einfachheit des Glaubens, indem ihr ihn auf Beweise und Zeugen stützt, dazu noch auf Jüdische? Falls euch aber jene frühere Auffassung nicht mehr behagt und ihr deshalb zur gegenteiligen übergegangen seid: gibt es einen Zeugen, der bei euch mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen darf als Gott selber, der für seinen Sohn Zeugnis ablegte, indem er, ohne einen Propheten oder Vermittler einzuschalten, in jenem Augenblick, als er seinen Sohn zur Erde sandte, unvermittelt vom Himmel her seine Stimme ertönen liess und sagte (Mt. 17,5; Lk. 9,35): Dies ist mein geliebtester Sohn, auf ihn sollt ihr hören!, oder auch Christus, der für sich selber Zeugnis ablegte, indem er, neben vielen andern ähnlich lautenden Aussagen, erklärte (Joh. 16,28): Von meinem Vater bin ich ausgegangen und in diese Welt gekommen, worauf die Juden zähnefletschend antworteten (Joh. 8,13): Du legst über dich selber Zeugnis ab, dein Zeugnis ist nicht wahr, worauf wiederum Christus erwiderte (cf. Joh. 8,14 ff.): Auch wenn ich über mich selber Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis wahr. Denn auch in eurem Gesetz heisst es (cf. Deut. 17,6): ‛Das Zeugnis von zwei Menschen ist wahr’; ich bin es, der über mich Zeugnis ablegt, und auch der Vater, der mich gesandt hat, legt über mich Zeugnis ab. Er sagte nicht: Und auch die Propheten. Zusätzlich ruft er auch noch seine Werke zu Zeugen auf, indem er sagt (Joh. 10,38): Wenn ihr mir nicht glaubt, glaubt wenigstens meinen Werken! Er sagte nicht: Wenn ihr mir nicht glaubt, glaubt wenigstens den Propheten. Wir haben also keinen Mangel an Zeugnissen für unseren Erlöser; was wir bei den Propheten suchen, sind einzig Vorbilder für ein ehrenhaftes Leben, sowie Verstand und Tugend, und von all dem war, wie ich sehe, bei den Jüdischen Sehern nichts vorhanden, da es dir ja sonst nicht entgangen wäre. Als ich dich nämlich um Rat fragte, warum man deiner Meinung nach die Propheten anerkennen sollte (328,26), hast du dich in kluger Einschätzung und höflicher Zurückhaltung über ihre Taten in Schweigen gehüllt und ausschliesslich ihre Weissagungen erwähnt, dabei aber natürlich jene Schriftstelle (Mt. 7,16) nicht beachtet, in der es heisst, dass man niemals Trauben aus Dornen oder Feigen aus Disteln ernten kann. Auf deine Frage, warum wir die Propheten nicht anerkennen, soll dir also fürs erste diese knappe und zurückhaltende Antwort genügen; im übrigen ist in den Schriften unserer Vorväter schon zur Genüge nachgewiesen worden, dass sich keine ihrer Prophetien auf Christus beziehen. Ich meinerseits möchte noch folgendes beifügen: Wenn die Hebräischen Seher von Christus wussten und ihn ankündigten, aber trotzdem so lasterhaft lebten, wird man auch von ihnen mit Recht sagen können, was Paulus bei den Weisen aus den Heidenvölkern beklagt (Rm. 1,21): Denn obwohl sie Gott erkannt haben, haben sie ihm nicht als Gott Ehre und Dank erwiesen, sondern sie wurden eitel in ihren Gedanken und verfinstert wurde ihr unverständiges Herz. Du siehst also, dass Grosses zu wissen nur dann etwas Grosses ist, wenn man ein Leben führt, das der Würde dessen gerecht wird, was man weiss.
