Sechster Artikel. Die natürlichen Gaben im Engel bilden die Richtschnur für die ihin verliehene Gnade und Herrlichkeit.
a.) Dem scheint nicht so zu sein. Denn: I. Die Gnade hängt vom reinen Willen Gottes ab; also auch ihre Beschaffenheit und ihr Umfang. II. Viel näher scheint der Gnade zu stehen der menschliche Akt wie die menschliche Natur; denn der Akt bereitet bereits vor für die Gnade. Die Gnade aber folgt nicht den Werken. (Röm. 11.) Also noch weniger entspricht sie der Natur in den Engeln. III. Der Engel ist in seiner Beziehung zur Gnade und Herrlichkeit ähnlich dem Menschen. Letzterem aber wird nicht die Gnade gegeben gemäß der Stufe, welche seine natürlichen Kräfte einnehmen; also auch nicht dem Engel. Auf der anderen Seite sagte Petrus Lombardus (3. dist. 2. sent.): „Jene Engel, welche von Natur scharfblickender sind, haben auch größere Gnadengeschenke.“
b) Ich antworte, es sei vernünftig, daß den Engeln die Gnade und die Herrlichkeit nach Maßgabe ihrer Natur gegeben worden ist. Dies folgt aus zwei Gründen: 1. Gott hat nach seiner Weisheit die verschiedenen Stufen in der Engelnatur geordnet. Nun ist aber die Engelnatur gemacht, um Gnade und Herrlichkeit zu erlangen. Also scheinen auch die verschiedenen Stufen dieser Natur für die verschiedenen Stufen der Gnade und Herrlichkeit gemacht. So scheint der Baumeister ebenfalls deshalb einzelne Steine schöner und sorgsamer zu behauen, weil er sie an einen ehrenvolleren Platz im Hause stellen will. 2. Im Menschen hindert die sinnliche Natur und hält zurück die Thätigkeit der geistigen Natur. Wäre das nicht, so würde die Natur, welche allein für sich wäre, ihrer Neigung mit allem ihr eigenen Ungestüm folgen. Der Engel aber hat nicht zwei Naturen in sich. Also bewegt er sich mit allem Ungestüm, dessen diese Natur fähig ist. Somit scheint es vernünftig, daß jene Engel, die eine stärkere Natur hatten, auch wirksamer zu Gott sich gewendet haben. Das geschieht ja auch bei den Menschen. Nach dem höheren oder minderen Grade, mit dem er sich zu Gott wendet, ist höher oder geringer die Gnade und die Herrlichkeit.
c) I. Die Gnade rührt vom reinen Willen Gottes her; und ebenso die Natur des Engels. Wie also Gott die Natur des Engels hingeordnet hat zum Empfangen der Gnade, so auch die verschiedenen Stufen dieser Natur zu den verschiedenen Stufen der Gnade. II. Die Akte der vernünftigen Natur sind von dieser; die Natur selbst aber ist unmittelbar von Gott. Mehr angemessen erscheint es also, daß die Gnade nach Maßgabe der Natur gegeben werde wie nach Maßgabe der Werke. III. Die Verschiedenheit der Natur ist anders bei den Engeln und anders bei den Menschen. Denn die Naturen in den Engeln unterscheiden sich voneinander der Gattung nach und die verschiedenen Menschen nur der Zahl nach. Der Unterschied gemäß der Gattung aber ist wegen der verschiedenen Wesensform, bezieht sich also direkt auf Gott, der die Wesensformen geordnet hat, sowie auf den Zweck im Ganzen; dagegen ist der Zahlunterschied nur wegen der Verschiedenheit des Stoffes. Zudem besteht in den Menschen ein Element, welches die Thätigkeit und Bewegung der vernünftigen Natur hindern oder aufhalten kann, was bei den Engeln nicht der Fall ist. Also stehen insoweit Mensch und Engel nicht auf derselben Stufe.
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