Zweiter Artikel. Die Vernunft ist ein leidendes oder empfangendes vermögen.
a) Das scheint nicht der Fall zu sein. Denn: I. Jegliches Sein leidet oder empfängt gemäß dem bestimmbaren Stoffe; es ist thätig gemäß der bestimmenden Form. Die Vernunftkraft aber ist eine Folge der Stofflosigkeit in der Substanz des Erkennenden. Also. II. Das Vernunftvermögen ist unvergänglich. Die Vernunft aber ist, wenn sie leidet, vergänglich; wie es 3. de anima heißt. III. Das Einwirkende steht im Sein höher wie das Empfangende oder Leidende. Die Vermögen der Nährseele aber sind alle in einwirkender Weise thätig, sind nicht empfangende und stehen doch auf der niedrigsten Stufe der Seelenvermögen. Also sind um so mehr einwirkend die vernünftigen Vermögen, welche auf der höchsten Stufe stehen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Geistig erkennen ist gewissermaßen leiden.“
b) Ich antworte, leiden habe einen dreifachen Sinn. Einmal wird es im eigentlichen Sinne gebraucht, um auszudrücken, daß von einem Dinge etwas entfernt werde, was ihm gemäß seiner Natur oder nach der ihm eigenen Hinneigung zukäme; wie wenn das Wasser durch die Wärme seine Kälte verliert und wie wenn der Mensch erkrankt oder traurig ist. Dann wird von einem Dinge, allerdings in minder eigentlichem Sinne gesagt, es leide, weil etwas von ihm von außen her hinweggenommen wird, sei dies ihm zukömmlich oder nicht; — und demgemäß heißt es nicht nur vom Kranken, er leide, sondern auch vom Gesunden; und nicht nur vom Trauernden, sondern auch vom Freudigen; es kommt hier nur darauf an, daß überhaupt etwas von außen her verändert oder bestimmt werde. Endlich leidet jemand auf Grund dessen allein, daß er im Zustande des Vermögens zu etwas ist und das erhält, wozu er das Vermögen hatte, ohne daß etwas von ihm entfernt und hinweggenommen werde; — und danach leidet alles das, was von einem Vermögen aus Thatsächliches wird, mag es auch dadurch in seinem Sein vollendet werden. Und in diesem letzteren Sinne ist unser geistiges Erkennen „leiden“ oder empfangen. Das erhellt aus der folgenden Begründung: Die Vernunft hat zum Gegenstande das Sein im allgemeinen. Darauf ist ihre Thätigkeit gerichtet. Aus der Beziehung also, welche die Vernunft zum Sein im allgemeinen hat, kann gefolgert werden; ob und wie die Vernunft eine thatsächliche in ihrem Erkennen ist oder ob und wie sie dazu im Zustande des Vermögens sich befindet. Nun wird eine Vernunft gefunden, die sich zu allem Sein wie Thatsächlichkeit und Thatsächliches begründende verhält. Das ist Gott, der reine vernünftige Akt. In Ihm besteht die wirkende Kraft und das Muster für alles Sein; Er ist deshalb nie im Zustande des Vermögens. Das kommt nun keiner geschaffenen Vernunft zu, daß sie Thatsächlichkeit sei mit Rücksicht auf alles Sein, daß also vor ihr alles Sein rein Vermögen sei. Jede geschaffene Vernunft steht dadurch selber daß sie geschaffenes, d. h. endliches Sein hat zum Erkennbaren in Beziehung wie Vermögen zum Thatsächlichen und Bethätigenden. Ein solches Vermögen aber verhält sich wieder in zweifacher Weise zum bethätigenden Sein. Einmal kann ein derartiges Vermögen immer durch die bestimmende Form im Wesen vollendet sein, wie z. B. der bestimmbare Stoff in den Himmelskörpern. Dann giebt es Vermögen, die nicht fortwährend vollendet sind; sondern vom Vermögen zum Thatsächlichen übergehen, wie unser irdischer Stoff, der bald diese bald jene Wesensform trägt. Die Engelvernunft nun ist immer durch die bethätigende Form vollendet; weil sie dem wesentlich reinen Vernunftakte so nahe steht. Die Menschenvernunft aber steht auf der untersten Stufe der Vernunftkräfte. Sie ist fern von der göttlichen Vollendung. Sie bildet nur ein Vermögen rücksichtlich alles Erkennbaren und gleicht im Beginne „einer Tafel, auf der nichts geschrieben ist“. (3. de anima.) Wir sind zuerst dem Vermögen nach erkennend und erst später in wirklicher Thatsächlichkeit. So also nach der dritten Art ist unser vernünftiges Erkennen gewissermaßen „leiden“; und unsere Vernunft ist ein „leidendes“ Vermögen.
c) I. Es handelt sich hier nicht, um die beiden ersten Arten zu leiden, sondern um die dritte, die allem zukommt, was im Vermögen ist. II. Die „leidende Vernunft“ nennen manche das sinnliche Begehrungsvermögen, worin die Leidenschaften der Seele ihren Sitz haben. 1 Ethic. cap. ult. wird es „als an der Vernunft teilnehmend“ bezeichnet, weil es der Vernunft gehorcht. Andere nennen „leidende Vernunft“ die an ein Organ gebundene sinnliche besondere Denkkraft (cf. oben). In jeder Weise wird hier das „leidend“ in den ersten beiden Arten genommen. Die rein geistige Vernunft aber steht im Zustande des Vermögens zu allen erkennbaren Dingen hin, ohne an ein stoffliches Organ gebunden zu sein. Aristoteles nennt sie deshalb nicht so sehr die „leidende“, intellectus passivus, als die „mögliche“ Vernunft, intelleecetus possibilis. III. Das Einwirkende ist höher im Sein wie das Empfangende, Bestimmbare; wenn es sich um ein und dasselbe handelt, worauf sich das Einwirken und das Empfangen richtet. Das ist aber hier nicht der Fall. Denn die Vernunft ist empfangend oder bestimmbar mit Rücksicht auf alles Sein, so daß sie alles was ist, in sich aufnehmen oder im Bereiche des Erkennens alles werden kann. Die Nährkräfte dagegen haben nur einen beschränkten Wirkungskreis, worauf sie einwirken. Da steht das Empfangende oder Bestimmbare höher im Sein wie das Bestimmende und Einwirkende.
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