Vierter Artikel. Die „einwirkende“ Vernunft gehört zur Seele und ist ein ihr eigentümliches Vermögen.
a) Dagegen wird geltend gemacht: I. Die Wirkung der „einwirkenden“ Vernunft ist: Erleuchten; damit etwas erkennbar sei. Das ist aber die Wirkung eines Höheren wie die Seele nach Joh. 1.: „Er war das wahre Licht, welcher erleuchtet jeden Menschen, der in die Welt kommt.“ II. Aristoteles sagt von der „einwirkenden“ Vernunft, „ihr sei es nicht eigen, bald zu verstehen bald nicht.“ (3. de anima.) Unsere Seele aber versteht bald und bald versteht sie nicht. Also ist die „einwirkende“ Vernunft nicht etwas in unserer Seele. III. Das Wirkende und das Leidende zusammen sind hinreichend, daß sich die Thätigkeit vollziehe. Besteht also eine „einwirkende“ Vernunft und eine „leidende“ oder mögliche in der Seele zusammen, so muß die Seele immer eine thatsächlich erkennende sein; oder wenigstens müßte sie immer zu erkennen vermögen, wann sie will; — was offenbar falsch ist. IV. Aristoteles sagt (3. de anima): „Die „einwirkende“ Vernunfti st eine dem thatsächlichen Sein nach bestehende Substanz.“ Nichts aber kann rücksichtlich ein und desselben thatsächlich bestehend sein und zugleich nur im Zustande des Vermögens sich befinden. Ist also die „mögliche“ Vernunft etwas in unserer Seele, die da im Verhältnisse des Vermögens steht zu allem Erkennbaren, so scheint es unmöglich, daß auch die „einwirkende“ Vernunft etwas in unserer Seele sei. V. Die „einwirkende“ Vernunft ist kein „Leiden“ und kein Zustand; also ist sie Vermögen. Denn „Leiden“ oder Leidenschaft ist vielmehr die Thätigkeit des leidenden Vermögens; und ein „Zustand“ ist das Ergebnis von Thätigkeiten. Jedes Vermögen muß aber aus dem Wesen der Seele fließen. Also ginge die „einwirkende“ Vernunft von dem Wesen der Seele aus; und so würde sie der Seele nicht innewohnen kraft der Teilnahme an einer höheren Vernunft, was unzukömmlich ist. Diese einwirkende Vernunft ist also nicht etwas in der Seele. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Notwendigerweise muß in der Seele dieser Unterschied sein zwischen der einwirkenden Vernunft und der möglichen.“
b) Ich antworte, die „einwirkende“ Vernunft, von welcher Aristoteles, spricht, sei etwas in der Seele. Das wird klar werden, wenn man erwägt, wie man über die menschliche vernünftige Seele notwendig eine höhere Vernunft stellen muß, von welcher die betreffende Seele die Erkenntniskraft erlangt. Denn was nur durch Mitteilung und Teilnahme an einem anderen Sein eine Vollkommenheit hat, was zudem beweglich und unvollkommen ist; das setzt mit Notwendigkeit ein Wesen voraus, welches kraft seiner Natur, also notwendig und nicht auf Grund von Mitteilung, diese selbe Vollkommenheit besitzt oder ist, welches sodann nach allen Seiten hin unbeweglich und unverrückbar und das endlich durchaus vollendet ist. Die vernünftige Seele aber ist vernünftig vermöge der Mitteilung von einer Vernunftkraft her. Das wird schon dadurch angezeigt, daß sie nicht ganz Vernunft ist, sondern nur dem Vermögen nach. Sodann gelangt sie zur Erkenntnis der Wahrheit vermittelst des Schließens von einem zum anderen, also vermittelst einer gewissen Bewegung. Endlich hat sie kein vollkommenes Verständnis. Denn sie versteht zuvörderst nicht Alles; und in dem, was sie versteht, geht sie vom Vermögen zum Thätigsein über. Also muß es eine höhere Vernunftkraft geben, von der sie unterstützt wird im geistigen Erkennen. Manche nahmen also an, diese höhere Vernunftkraft, eine von der menschlichen Seele allseitig getrennte Substanz, sei nun selber die „einwirkende“ Vernunft, die durch ihre Erhellung die Phantasiebilder als thatsächlich geistig erkennbare hinstellt. Vorausgesetzt nun es bestehe eine solche durchaus getrennte wirkende Vernunft, so muh man doch in der Seele selber eine Kraft oder ein Vermögen annehmen, welches von jener getrennt bestehenden Vernunft sich ableitet und durch das die Seele selber den Erkenntnisgegenstand zu einem für die Vernunft thatsächlich erkennbaren macht. Wir sehen ja das auch in den anderen Dingen der Natur, daß außer den getrennt bestehenden allgemeinen wirkenden Ursachen den einzelnen Dingen, die in ihrem Sein vollendet dastehen, eigene Kräfte eingeprägt worden sind, die sich von den allgemeinen wirkenden Ursachen ableiten. Denn nicht die Sonne allein erzeugt die Pflanzen; sondern in jeder Pflanze ruht eine Kraft, vermöge deren sie miterzeugt. Nun giebt es aber hier unten nichts Vollkommeneres wie die menschliche Seele. Also muß man demgemäß sagen, es bestehe in ihr eine von der höheren Vernunft abgeleitete Kraft, vermöge deren sie die Phantasiebilder erhellt und geistig erkennbar macht. Und dies können wir auch an uns selbst erfahren, wenn wir wahrnehmen, daß wir von den allgemeinen Wesenheiten die Einzelbedingungen, die vom Stoffe kommen, entfernen und so dieselben uns als thatsächlich erkennbare vergegenwärtigen. Diese Thätigkeit aber kann uns nicht zukommen außer durch ein Princip der Thätigkeit, das in uns ist. Die Kraft also, vermittelst deren wir das Allgemeine losschälen von den Einzelheiten, ist in der Seele selber. Und deshalb verglich Aristoteles (3. de anima) die „einwirkende“ Vernunft dem Lichte, das da etwas der Luft Mitgeteiltes, etwas von dieser Empfangenes ist. Plato aber verglich die getrennt existierende Vernunft, welche in unsere Seele einprägt, der Sonne, wie Themistius sagt. (3 de anima.) Diese letztere vollauf getrennt vom Stoffe existierende reine Vernunft aber ist nach den Urkunden unseres Glaubens Gott selbst, der Schöpfer unserer Seele, in dem allein (Kap. 106) die Seele ihre Seligkeit findet. Von Ihm also hat die menschliche Seele das geistige Licht mitgeteilt erhalten nach Ps. 4.: „Gesiegelt ist über uns das Licht Deines Antlitzes, o Herr!“
c) I. Jenes wahre Licht ist die allgemeine Ursache aller Erleuchtung; und von ihm her hat die Seele mitgeteilt erhalten eine gewisse besondere Kraft, um selbst zu erhellen. II. Aristoteles bezieht jene Worte nicht auf die „einwirkende“ Vernunft, sondern auf die thatsächlich erkennende Vernunft. Denn er hatte vorausgeschickt: „Ganz dasselbe (wie die Vernunft) ist, soweit es auf die Thatsächlichkeit ankommt, die Wissenschaft von einer Sache.“ Sollten jedoch die Worte auf die „einwirkende“ Vernunft bezogen werden, so bedeutet die Stelle, daß dies nicht von der „einwirkenden“ Vernunft herkommt, wenn wir bald verstehen bald nicht; sondern von seiten jener Vernunft, die im Zustande des Vermögens ist. III. Wäre die „einwirkende“ Vernunft der Gegenstand des Erkennens für die „mögliche“, wie dies das Sichtbare ist für das Sehen; so würde allerdings folgen, daß wir gleich Alles verständen, da ja die „einwirkende“ Vernunft Alles erkennbar macht. Aber so ist es nicht. Vielmeh rmacht sie die Gegenstände, die Phantasiebilder, zu thatsächlich erkennbaren. Dazu bedarf es aber nicht nur der Gegenwart der „einwirkenden“ Vernunft, sondern auch der Gegenwart der Phantasiebilder. Es bedarf einer guten Verfassung der Sinneskräfte und der thatsächlichen Anwendung derselben in solcher Wirksamkeit. Denn ist das eine verstanden, so werden wiederandere Dinge dem Verständnisse nähergerückt; wie vermittelst der einzelnen Ausdrücke die Begriffsbestimmung, vermittelst der Principien die darin enthaltenen Schlüsse. Mit Rücksicht darauf ist es ganz gleichgültig, ob die„einwirkende“ Vernunft etwas in der Seele sei oder nicht. IV. Die vernünftige Seele ist wohl dem thatsächlichen Sein nach stofflos; aber dem Vermögen nach ist sie auf bestimmte Gattungen der sichtbaren Dinge gerichtet. Die Phantasiebilder aber sind umgekehrt dem thatsächlichen Sein nach Ähnlichkeiten bestimmter Gattungen von Dingen; dem Vermögen nach aber sind sie stofflos. Deshalb steht dem nichts entgegen, daß ein und dieselbe Seele, insoweit sie dem thatsächlichen Sein nach stofflos ist, eine Kraft besitze, vermöge deren sie macht, daß etwas thatsächlich stofflos, d. h.losgeschält von stofflichen Einzelbedingungen ist; daß die Seele also eine „einwirkende“ Vernunft besitze; — und daß dieser selben Seele dann, insoweit sie im Zustande des Vermögens ist für die Aufnahme solcher Gattungsformen, eine Kraft innewohne, die „mögliche“ Vernunft, vermöge deren sie solche Formen in sich wirklich aufnimmt. V. Da das Wesen der Seele stofflos ist, geschaffen von der höchstenVernunft; so steht dem nichts entgegen, daß eine ihr von dieser Vernunft verliehene Kraft, vermittelst deren sie Formen vom Stoffe loslöst, aus ihrem Wesen hervorgehe, wie ja auch die anderen Vermögen.
