Neunter Artikel. Die höhere und niedere Verstandeskraft sind nicht zwei verschiedene Vermögen.
a) Dagegen scheint zu sprechen: I. Augustin (12. de Trin. 4.), der da sagt: „Das Bild der Dreieinigkeit ist im höheren Teile des Verstandes, nicht aber im niedrigen.“ „Teile“ der Seele aber werden die Vermögen genannt. Also ist die höhere Verstandeskraft ein eigenes Vermögen und die niedere ein eigenes. II. Nichts entsteht von sich selbst. Die niedere Verstandeskraft aber geht hervor von der höheren und wird von dieser her geregelt und geleitet. Also ist die höhere Verstandeskraft ein anderes Vermögen wie die niedere. III. Aristoteles sagt (6 Ethic. c. 1.): „Die Wissenschaft, wodurch die Seele das Notwendige erkennt, rührt von einem anderen Princip her und ist in einem anderen Teile der Seele wie die Meinung und Wahrscheinlichkeit, womit sie das erkennt, was seiner Natur nach nicht notwendig ist, sondern sein oder auch nicht sein kann.“ Und das beweist er damit, daß „jene Erkenntnisgegenstände, welche in ihrer Art erkannt zu werden, verschieden sind, auch in Beziehung stehen zu einem anderen Teile der Seele“. Was sein und auch nicht sein kann ist aber in einer anderen „Art“ wie das Notwendige; ebenso ist das Unvergängliche nicht in derselben „Art“ wie das Vergängliche. Da nun das, was Aristoteles „notwendig“ nennt, zusammenfällt mit dem, was Augustin als „ewig“ bezeichnet; und das was sein oder auch nicht sein kann, dasselbe ist wie das, was bei Augustin „zeitlich“ heißt; so ist die „höhere Verstandeskraft, welche auf das Ewige sieht und nach dem Ewigen hin sich beratet“, bei Augustin (12. de Trin. 7.) dasselbe wie die „Wissenschaft“ bei Aristoteles, „die das Notwendige zum Gegenstande hat;“ und die „niedrige Verstandeskraft“ Augustins, „die das Zeitliche leitet,“ ist dasselbe, wie „die Meinung und Wahrscheinlichkeit, welche auf das sich richtet, was sein oder nicht sein kann“, des Aristoteles. Also sind das zwei „Teile der Seele“, d. h. zwei Vermögen. IV. Damascenus schreibt (2. de orth. fide): „Der Einbildungskraft entstammt die Mutmaßung oder Meinung; der Verstand, der dabei unterscheidet, was wahr oder nicht wahr ist, legt dann den Maßstab der Wahrheit an.“ Deshalb heißt auch Verstand soviel als Vorstand, Vorstehen, Leiten, Messen. Was nun beurteilt ist und bestimmt, das wird Vernunft oder Verständnis genannt. Somit ist Meinen und Mutmaßen etwas Anderes wie Wissen und Vernunft oder Verstand; d. h. die niedrige Verstandeskraft unterscheidet sich dem Vermögen nach von der höheren. Auf der anderen Seite sagt Augustin (12. de Trin. 4.): „Die höhere und niedrigere Verstandeskraft seien unterschieden nur gemäß der Aufgabe.“
b) Ich antworte, diese höhere und niedrigere Verstandeskraft, wie sie Augustin aufgestellt, seien unmöglich zwei verschiedene Vermögen. Die erstere nämlich betrachtet das Ewige und nimmt es zur Richtschnur der Wirksamkeit; die letztere aber giebt acht auf das Zeitliche. Diese zwei Gegenstände aber, das Zeitliche und Ewige, verhalten sich so zu unserer Kenntnis, daß der eine das Mittel ist, um den anderen zu erkennen. Denn durch das Zeitliche kommen wir nach dem Apostel (Röm. 1, 20.) zur Kenntnis des Ewigen. Und wiederum urteilen wir nach dem bereits bekannten Ewigen über das Zeitliche und leiten dasselbe nach Maßgabe der ewigen Seinsgründe. Nun kann es wohl geschehen, daß das Vermittelnde zu dem einen Zustande eines Vermögens gehört und das, wozu das Vermittelnde dient, zu einem anderen Zustande; wie die Principien, welche dem Zustande der geometrischen Wissenschaft angehören, zur Erkenntnis jener Wahrheiten führen, welche dem Zustande der Perspektiv-Wissenschaft oder der Optik angehören. Aber es besteht immer das eine und selbe Vermögen der Vernunft, welches auf die Principien sich erstreckt und auch auf das Vermittelnde und auf das letzte Ergebnis der Erkenntnis. Der Akt der Vernunft nämlich ist gleichsam eine Bewegung, welche von dem einen zum anderen in der Erkenntnis gelangt. Es ist aber immer ein und dasselbe Bewegliche, was von dem einen Endpunkte zum anderen durch die Zwischenpunkte gelangt. Also ist ein und dasselbe Vermögen die niedere und höhere Verstandeskraft. Nur die Aufgaben beider, die Erkenntnisgegenstände sind verschieden: Der höheren wird die Weisheit zugeteilt, der niedrigeren das Wissen; insoweit es nämlich auf die geschöpflichen Seinsgründe sich erstreckt.
c) I. Die höhere und niedere Verstandeskraft wird so eingeteilt nach den verschiedenen Aufgaben, nicht weil es zwei Vermögen sind; und so nennt sie Augustin „Teile“ der Vernunft. II. Die Principien, nach welchen die niedere Verstandeskraft urteilt, werden abgeleitet von den Principien der höheren, nämlich den ewigen Seinsgründen; und in dieser Weise leitet und regelt die höhere Verstandeskraft die niedere. III. Die „Wissenschaft“, von der Aristoteles spricht, ist nicht dasselbe wie die höhere Verstandeskraft; denn auch die niedrigere hat zum Gegenstande das Notwendige, wie die Mathematik und Naturwissenschaft. „Meinen“ und „Mutmaßen“ aber stehen tiefer wie die niedere Verstandeskraft. Denn dies hat zum Gegenstande nur das, was sein oder auch nicht sein kann. Es darf aber nicht gesagt werden, daß ein anderes, vernünftig erkennendes Vermögen, auf das Notwendige sich richtet und ein anderes solches Vermögen auf das nicht Notwendige; denn beide Gegenstände erkennt das eine Vernunftvermögen gemäß der Natur seines eigensten Erkenntnisgegenstandes, gemäß dem nämlich, daß beides ist und wahr ist. Nur erkennt die Vernunft das Notwendige vollkommen, denn dasselbe hat ein vollkommen erkennbares Sein in der Wahrheit; und die Vernunft kann daher bis zum Wesen durchdringen und vermittelst des Wesens bis zu den diesem eigenen Eigenschaften. Was aber sein oder auch nicht sein kann der innersten Natur nach; das erkennt die Vernunft nur unvollkommen, sowie auch das entsprechende Sein und Wahrsein kein vollkommenes, d. h. den ausreichenden Grund für das Bestehen in sich nicht einschließendes ist. Das Vollkommene oder Unvollkommene aber im Gegenstande macht nicht ein verschiedenes Vermögen erforderlich; sondern das verursacht nur ein Verschiedensein in der Thätigkeit des Vermögens, soweit es die Art und Weife der Thätigkeit anbetrifft und folgerichtig ein Verschiedensein in den nächsten Principien der Thätigkeit und in den entsprechenden Zuständen. Und deshalb unterscheidet Aristoteles das „Wissen in der Seele“ vom „Meinen und Mutmaßen“ als verschiedene „Teilchen“ der Seele; nicht als ob sie verschiedene Vermögen andeuteten, sondern weil sie anzeigen, es sei eine mehr oder minder große Leichtigkeit in der Seele vorhanden, um die entsprechend verschiedenen Zustände in sich aufzunehmen, da er gerade von letzteren spricht. „Zufälliges“ nämlich sowohl wie „Notwendiges“ hat Sein und gehört deshalb als Erkenntnisgegenstand der Vernunft an; aber es ist da ein Unterschied vorhanden wie zwischen „unvollkommen“ und „vollkommen“. IV. Damascenus unterscheidet nach der Verschiedenheit der Thätigleiten; nicht nach der in den Vermögen. „Meinen“ nämlich bedeutet eine Thätigkeit der Vernunft, welcher gemäß die Vernunft wohl auf das Bejahen gerichtet ist; aber mit der Furcht, daß das Gegenteil wahr sei oder umgekehrt. „Urteilen“ vollzieht sich vermittelst der Anwendung zuverlässiger, sicherer Principien auf das zu Prüfende. „Verstehen“ oder vernünftig erkennen heißt dem nun so Geurteilten beistimmen und anhängen.
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