Fünfter Artikel. Die „einwirkende“ Vernunft ist nicht eine einzige in allen.
a) Das scheint aber so zu sein. Denn: I. Was vom Körper getrennt ist, wird nicht nach Maßgabe der Körper vervielfältigt. Die „einwirkende“ Vernunft aber ist getrennt, wie 3. de anima gesagt wird. Also giebt es nur eine. II. Die „einwirkende“ Vernunft stellt das Allgemeine her, was Eines ist in vielen Dingen. Was aber die Ursache für die Einheit ist, das ist an sich noch mehr geeint. III. Alle Menschen kommen überein in den ersten Auffassungen der Vernunft. Diesen stimmen sie aber zu kraft der „einwirkenden“ Vernunft. Also haben sie alle ein und dieselbe „einwirkende“ Vernunft. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles: „Die einwirkende Vernunft ist wie das Licht.“ Nicht aber ein und dasselbe Licht ist in den verschiedenen beleuchteten Gegenständen. Also ist nicht eine einzige „einwirkende“ Vernunft in den verschiedenen Menschen.
b) Ich antworte, daß, wenn die „einwirkende“ Vernunft etwas in der Seele selbst ist und derselben als Vermögen innewohnt, dann sie auch so vielfältig sein muß, wie viele Seelen es giebt und somit wie viele Menschen es giebt. Denn der Zahl nach ein und dieselbe Kraft kann nicht verschiedenen Subjekten zugehören.
c) I. Aristoteles sagt, die „einwirkende“ Vernunft sei zum mindesten ebensogut getrennt wie die „mögliche“; denn was wirkt steht höher, wie das was leidet. Letztere aber wird als getrennt bezeichnet, weil ihre Thätigkeit an kein stoffliches Organ gebunden ist wie das Sehen an das Auge. In dieser Weise also ist auch die erstere getrennt. II. Die „einwirkende“ Vernunft löst das Allgemeine ab vom Stofflichen. Dazu braucht sie aber nicht in allen eine zu sein, sondern sie muß immer die gleiche Beziehung haben zu den Dingen, von denen sie das Allgemeine losschält und für die das Allgemeine das Eine ist. Und deshalb ist sie stofflos. III. Die Dinge, welche an ein und derselben Gattung teilnehmen, kommen überein in der Thätigkeit, welche der Natur dieser Gattung folgt; und folgegemäß kommen sie überein in jener Kraft, welche das Princip der betreffenden Thätigkeit ist; nicht aber daß diese Kraft der Zahl nach in allen ein und dieselbe wäre. Erkennen nun die ersten Auffassungen ist eine Thätigkeit, welche der menschlichen Gattungsstufe ihrer Natur nach folgt. Also müssen alle Menschen die Kraft besitzen, welche das Princip dieser Thätigkeit ist; und dies ist die Kraft der „einwirkenden“ Vernunft. Sie ist also nicht der Zahl nach eine einzige in allen Menschen. Aber sie muß sich von ein und demselben Princip in allen ableiten. Und so beweist diese Gemeinsamkeit der Menschen in den ersten Auffassungen die Einheit der einen getrennten Vernunft, welche Plato mit der Sonne vergleicht; nicht aber die Einheit der „einwirkenden“ Vernunft, welche Aristoteles mit dem Lichte vergleicht.
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