Zehnter Artikel. Das reine Verständnis ist kein anderes Vermögen wie die Vernunft.
a) Das Verständnis scheint ein anderes Vermögen zu bezeichnen wie die Vernunft. Denn: I. In de spir. et anima heißt es (cap. 11.): „Steigen wir auf vom Niedrigeren zum Höheren, so begegnet uns zuerst der Sinn, dann die Einbildung, dann die Kraft zu schließen von einem auf das andere, dann die Vernunft, dann das Verständnis.“ Sinn und Einbildung aber sind verschiedene Vermögen; also auch Vernunft und Verständnis. II. Boëtius sagt (5. de oonsol. pr. 4.): „Den Menschen selber berücksichtigt anders der Sinn, anders die Phantasie, anders die Verstandeskraft, anders das Verständnis.“ Die Verstandeskraft nun ist dasselbe wie die Vernunft. Also ist das Verständnis verschieden von der Vernunft. III. „Die Thätigkeit geht dem Vermögen vorauf“ heißt es 2. de anima. Das Verständnis aber bedeutet eine Thätigkeit der Vernunft, die von den anderen Thätigkeiten der Vernunft verschieden ist. Denn so sagt Damascenus (2. de orth. fide cap. 22.): „Die erste Thätigkeit wird Verständnis genannt. Ist dasselbe auf etwas Gewisses gerichtet, so heißt es Absicht; ist diese dauernd und formt sie die Seele dazu, was verstanden wird, so heißt sie Idee oder Gedanke; die Idee aber, welche in ein und demselben bleibt und sich selber prüft und beurteilt, heißt Weisheit oder Klugheit; diese aber, wenn sie sich auf einen weiteren Kreis ausdehnt, wird Kenntnis genannt und macht innerlich das Wort oder die Rede; und ein Ausdruck und Abbild dieser ist dann die äußere Rede, welche die Zunge wiedergiebt.“ Das Verständnis also scheint ein besonderes Vermögen zu sein. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Das Verständnis hat zum Gegenstande die unteilbaren Größen, worin nichts Falsches sein kann.“ Das aber gehört zur Vernunft.
b) Ich antworte, daß „Verständnis“ nichts Anderes bedeutet als den Akt oder die Thätigkeit der Vernunft; was man „Erkennen“ oder „Einsehen“ nennt. Deshalb werden in manchen arabischen Schriften, die übersetzt worden sind, die Wesen, welche wir Engel nennen, Verständniskräfte, intelligentiae) genannt, weil sie nämlich immer thatsächlich erkennen. In den aus dem Griechischen übertragenen Büchern aber heißen sie intellectus, Vernunftkräfte, oder mentes, Geisteskräfte. So also wird das Verständnis unterschieden von der Vernunft; nicht wie ein Vermögen vom anderen, sondern wie eine Thätigkeit des entsprechenden Vermögens von einer anderen dieses selben Vermögens. Diese Unterscheidung machen auch die Philosophen. Denn bisweilen nehmen sie vier Vernunftkräfte an: Die „einwirkende“, die „mögliche“ Vernunft, die Vernunft im Zustande und die Vernunft in der Thätigkeit; von denen die ersten beiden verschiedene Vermögen sind, wie überall das wirksame Vermögen sich unterscheidet vom empfangenden. Die letzten drei da unterschiedenen sind aber nur verschiedene Zustände der „möglichen“ Vernunft. Denn diese ist bisweilen rein im Zustande des reinen Vermögens; und dann heißt sie „möglich“; — oder sie ist bereits auf einen besonderen Erkenntnisgegenstand gerichtet; und dann ist sie „im Zustande“ nämlich der Wissenschaft; oder sie erkennt wirklich und hält sich den Gegenstand der Wissenschaft gegenwärtig; dann ist sie „in Thätigkeit“.
c) I. Soll jenem Buche eine Autorität zugeschrieben werden, so steht das „Verständnis“ für die Thätigkeit der Vernunft. II. Boëtius nimmt „Verständnis“ für eine Thätigkeit der Vernunft, welche die Thätigkeit des bloßen Schließens überragt: „Letztere ist dem Menschen eigen,“ wie er eben da sagt; „das reine Verständnis oder Schauen habe Gott allein.“ III. Alle jene Thätigkeiten, die Damascenus aufzählt, gehören einem einzigen Vermögen, nämlich der Vernunft, an. Dieselbe erfaßt zuerst in einfacher Weise etwas; — und diese Thätigkeit heißt Verständnis. Sie ordnet, was sie erfaßt hat, hin zur Erkenntnis oder zur Hervorbringung von etwas Anderem; — das wird Absicht genannt. Sie bleibt stehen in der Untersuchung dessen, was sie beabsichtigt; — das heißt Nachdenken. Sie wendet auf das, was sie gedacht, über allen Zweifel erhabene Principien an; — das ist Wissen oder Weisheit. Sie denkt, wie sie das was sie prüft, anderen offenbaren kann; — das ist die Vorbereitung, die innere Rede. Und daher kommt dann die äußere Rede. Nicht aber jede Verschiedenheit in den Thätigkeiten verursacht eine Verschiedenheit in den Vermögen; sondern nur dann ist dies der Fall, wenn sich die verschiedenenThätigkeiten nicht auf ein einziges Princip zurückführen lassen, von dem sie unmittelbar ausgehen.
