Sechster Artikel. Im vernünftigen Teile der Seele besteht ein Gedächtnis.
a) Dagegen sagt: I. Augustin (12. de Trin. c. 2. et 3.): „Zum höheren Teile der Seele gehört, was dem Menschen und den Tieren nicht gemeinsam ist.“ Das Gedächtnis aber ist gemeinsam. „Denn,“ sagt er (l. c.), „die Tiere können körperliche Eindrücke vermittelst ihrer Sinne empfangen und sie dem Gedächtnisse einprägen.“ Also hat der vernünftige Teil der Seele kein Gedächtnis. II. Das Gedächtnis richtet sich auf Vergangenes. Vergangenes aber wird so genannt gemäß einer bestimmten Zeit. Das Gedächtnis also erkennt etwas als in den Schranken einer gewissen Zeit eingeschlossen. Das ist jedoch dasselbe, wie wenn etwas geradezu als Einzelnes unter Zeit und Ort erkannt würde; was nicht der Vernunft, sondern nur dem Sinne zukommt. III. Das Gedächtnis ist der Behälter der Gattungen jener Dinge, an die thatsächlich nicht gedacht wird. Das ist aber gar nicht verträglich mit der Vernunft. Denn hat die Vernunft ihre Erkenntnisform, so ist sie durch dieselbe geformt und erkennt thatsächlich, zumal das thatsächlich Erkannte das thatsächliche Erkennen ist. Also hat die Vernunft keine Gattungsformen in sich, vermittelst deren sie nicht thatsächlich erkennt. Auf der anderen Seite sagt Augustin (10. de Trin. 11.): „Das Gedächtnis, die Vernunft und der Wille sind der eine Geist.“
b) Ich antworte; da es zur Natur des Gedächtnisses gehört, die wahrgenommenen Formen festzuhalten und zu bewahren, so muß man zuerst danach fragen, ob die Vernunft ihre Erkenntnisformen zu bewahren vermag. Dem tritt Avicenna entgegen. Er meint, im sinnlichen Teile können wohl auf Grund des körperlichen Organs die aufgenommenen Formen oder Wahrnehmungen festgehalten werden, ohne daß sie thatsächlich aufgefaßt würden; nicht aber in der Vernunft, die ohne körperliches Organ thätig ist. Sonach wird das, dessen Ähnlichkeit in der Vernunft ist, thatsächlich aufgefaßt; und ist es nicht thatsächlich aufgefaßt, so hört es auf, in der Vernunft anwesend zu sein. Es muß sich, will die Vernunft von neuem dasselbe auffassen, die letztere wieder an die „einwirkende“ Vernunft wenden, die Avicenna als eine durchaus getrennte auffaßt, damit von ihr von neuem die Erkenntnisformen ausfließen in die „mögliche“ Vernunft. Und aus dieser Übung, sich zur „einwirkenden“ Vernunft zu wenden, bliebe in der „möglichen“ Vernunft eine gewisse Leichtigkeit dazu, welche Avicenna den Zustand der Wissenschaft nannte. Danach also wäre nicht daran zu denken, daß man ein geistiges oder vernünftiges Gedächtnis annehmen könne. Das aber ist durchaus entgegen den Worten des Aristoteles (3. de anima): „Wenn die mögliche Vernunft in solcher Weise etwas Einzelnes (im Bereiche des Erkennens) wird, daß sie als eine wirklich wissende bezeichnet wird — und das trifft ein, wenn sie erkennen kann, so oft sie will — so ist sie wohl noch im Zustande des Vermögens, jedoch nicht ohne weiteres wie sie es war, ehe sie eine wirkliche Wissenschaft in sich aufgenommen hatte.“ Die „mögliche“ Vernunft wird aber etwas Einzelnes, soweit sie die Gattungsformen der einzelnen Dinge in sich aufnimmt. Danach also, daß sie die Ideen oder Gattungsformen der erkennbaren Dinge in sich aufnimmt, also von etwas Wissen hat, kann sie wohl thätig sein, wann sie will; aber es ist damit nicht gesagt, daß sie immer und ohne Unterbrechung thätig ist. Denn derjenige, der etwas weiß, ist noch immer im Zustande des Vermögens dazu, daß er es thatsächlich sich vergegenwärtige. Die Meinung Avicennas widerspricht auch der Vernunft. Denn wo ein Sein oder ein Vermögen aufgenommen wird, so besteht dieses gemäß der Art und Weise des aufnehmenden Seins oder Vermögens. Nun erfreut sich aber die Vernunft einer Natur, die dauernder und der Veränderlichkeit weniger zugänglich ist als die des Stoffes. Kann also der Stoff die angenommenen Formen festhalten, so kann dies um so mehr die Vernunft; und zwar geschieht dies bei ihr, soweit es auf sie ankommt so, daß sie diese Formen unverrückbar und unverlierbar festhält, sei es daß sie selbe von den Sinnen erhält sei es durch den Einfluß einer höheren Vernunft. Wird also das Gedächtnis für die Kraft genommen, die wahrgenommenen Formen festzuhalten, so ist ein solches im vernünftigen Teile der Seele. Wird es aber als zur Natur des Gedächtnisses gehörig betrachtet, daß der Gegenstand mit dem Merkmale der Vergangenheit behaftet darin sei; so gehört dies dem sinnlichen Teile an, in welchem die Dinge zusammen mit ihren Beschränkungen nach Zeit und Ort sich vorfinden.
c) I. Das Gedächtnis als reiner Behälter der Erkenntnisformen oder Ideen ist dem Menschen nicht mit dem Tiere gemeinsam. Denn das Gedächtnis der Tiere ist an ein Organ gebunden und behält deshalb notwendig die Dinge zusammen mit ihren Beschränkungen von Zeit und Ort; und somit ist das Gedächtnis da nicht eigentlich in der sinnlichen Seele, sondern in der Verbindung von Leib und Seele. Das trifft aber beim Gedächtnisse der Vernunft nicht zu. Von ihm sagt umgekehrt Aristoteles: „Nicht die Seele als ein Ganzes ist an und für sich der Platz für die Ideen, sondern das Vermögen der Vernunft.“ II. „Vergangensein“ kann auf den Gegenstand der Erkenntnis bezogen werden und auf den Akt der Erkenntnis. Dieses Beide ist verbunden im Tiere, welches eben dadurch sinnlich auffaßt, daß der Sinn beeinflußt und verändert wird vom äußeren sinnlich Wahrnehmbaren und das da deshalb zugleich sich erinnert, es habe diesen Eindruck empfunden und daß es ein Wahrnehmbares empfunden habe, was bereits vergangen ist. Bei der Vernunft aber fällt das Vergangensein als begleitendes Moment des erkennbaren Gegenstandes an und für sich fort. Denn die Vernunft erkennt den Menschen als solchen. Zur Natur des Menschen als solchen gehört es aber nicht, daß der Mensch vergangen, gegenwärtig oder zukünftig sei. Das ist für den Menschen in seiner allgemeinen Natur betrachtet etwas Zufälliges, rein von außen Hinzutretendes. Von seiten des Aktes aber kann das Vergangensein als ein begleitendes Moment an und für sich aufgefaßt werden. Denn das Erkennen unserer Seele ist ein einzelner besonderer Akt, der in dieser oder jener Zeit sich vollzieht; der Mensch versteht heute oder morgen oder gestern. Und das widerstrebt nicht der Natur der Vernunft. Denn ein solcher Akt ist wohl ein einzelner besonderer; aber er ist stofflos, wie Kap. 75, Art. 2 gesagt worden und oben bei den Engeln. Und deshalb erkennt die Vernunft sowohl sich selbst, obgleich sie eine einzelne besondere ist, als auch erkennt sie ihren einzelnen besonderen Akt, soweit er vergangen, gegenwärtig oder zukünftig ist. Die Natur des Gedächtnisses wird also nach dieser Seite hin gewahrt und die Natur der Vernunft zugleich. Denn die Vernunft erkennt, daß sie vorher in der Vergangenheit erkannt habe; sie erkennt aber nicht den Gegenstand als solchen, insoweit er von sich aus den Schranken der Zeit und Ort unterliegt, d. h. mit der Vergangenheit behaftet ist. III. Die Erkenntnisformen oder Ideen machen an und für sich es der Vernunft nur möglich, auf einen bestimmten Gegenstand sich in der thatsächlichen Kenntnis zu richten. Deshalb sind sie auch innerhalb der Vernunft bisweilen nur im Zustande der Möglichkeit, bis die Vernunft thatsächlich den Akt vollendet. Somit ist die Vernunft einmal ein reines unbestimmtes Vermögen; und dann ist sie wieder auch thatsächlich erkennend. In der Mitte aber steht der Zustand, in welchem sie innerhalb ihrer selbst die Erkenntnisformen aufbewahrt, also eine gewisse Richtung für ihre Kenntnis in sich hat und doch nicht thatsächlich erkennt, wie dies bei der Wissenschaft z. B., welche die Vernunft sich erworben, der Fall ist; der gemäß der Wissende nicht thatsächlich immer zu erkennen braucht, aber erkennen kann,wenn er will.
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