Elfter Artikel. Die spekulative oder rein betrachtende Vernunft und die praktische oder thätige sind nicht zwei verschiedene Vermögen.
a) Dies scheint jedoch der Fall zu sein. Denn: I. Vermögen, die nur erfassen, und Vermögen, von denen die Bewegung ausgeht, sind der „Art“ nach zwei verschiedene Vermögen. Die rein betrachtende Vernunft aber erfaßt nur; die thätige bewegt zum Wirken. Also sind es zwei verschiedene Vermögen. II. Der Gegenstand der rein betrachtenden Vernunft ist das Wahre; jener der thätigen ist das Gute. Eine Verschiedenheit im Gegenstande macht aber eine Verschiedenheit im Vermögen. Also sind da zwei Vermögenvorhanden. III. Die thätige Vernunft verhält sich zur rein betrachtenden wie die Schätzungskraft oder der Instinkt im sinnlichen Teile zur Einbildungskraft. Letztere beide aber sind zwei Vermögen; also auch die ersten beiden. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Dehnt sich die rein betrachtende Vernunft weiter aus, so wird sie zur thätigen.“ Ein Vermögen aber wird niemals ein anderes. Also besteht nur ein Vermögen.
b) Ich antworte, es handle sich hier nur um ein Vermögen und nicht um zwei voneinander verschiedene. Was zum Gegenstande eines Vermögens nebenbei, nicht aus der inneren Natur heraus, sondern von außen her hinzutritt, verursacht keinen Unterschied im Vermögen. Daß das Farbige ein Mensch sei, etwas Großes oder Kleines, bewirkt nicht, daß, um es wahrzunehmen, ein anderes Sehvermögen erfordert werde. Alles was Farbe heißt umfaßt das eine Sehvermögen. Nun tritt dies aber zu einem von der Vernunft erfaßten Gegenstande hinzu, daß derselbe gewirkt oder hervorgebracht werden könne und dazu geeignet sei. Da dies nun gerade der Unterschied ist zwischen der betrachtenden Vernunft und der thätigen, daß die erste einen Gegenstand erfaßt, den sie nicht in Beziehung setzt zum Gewirktwerden, sondern nur zur Betrachtung der Wahrheit; die thätige aber die Beziehung zum Werke hinzufügt, so wird dadurch keine Unterscheidung im Vermögen begründet. Deshalb sagt Aristoteles (3. de anima): „Nur im Zwecke unterscheidet sich die betrachtende, spekulative Vernunft von der thätigen.“
c) I. Die thätige oder praktische Vernunft führt die Bewegung nicht aus, sondern lenkt dieselbe nur; und das thut sie nach der Art und Weise ihrer Auffassung. II. Das Gute und Wahre schließen sich gegenseitig ein. Denn das Gute ist etwas Wahres und das Wahre ist etwas Gutes. Wie also der Gegenstand des Begehrens das Wahre sein kann, weil es etwas Gutes ist; so ist der Gegenstand der thätigen Vernunft das Gute, was geschehen kann,weil es etwas Wahres ist. Das Wahre hingeleitet zum Wirken ist Gegenstand der thätigen Vernunft. III. Vieles macht auf Grund des erforderten körperlichen Organs eine Verschiedenheit in den sinnlichen Kräften, was dies nicht thut in der Vernunftkraft.
