Siebenter Artikel. Das Gedächtnis ist kein eigenes Vermögen neben der Vernunft.
a) Das geistige Gedächtnis scheint ein eigenes Vermögen zu sein. Denn: I. Augustin (10. de Trin. 10.) setzt in den vernünftigen Geist: das Gedächtnis, die Vernunft oder das Verständnis und den Willen. Die Vernunft aber unterscheidet sich vom Willen wie ein Vermögen vom anderen. Also ist dies auch beim Gedächtnisse der Fall. II. Das Gedächtnis im sinnlichen Teile ist als Vermögen geschieden vom auffassenden Sinn. Derselbe Grund der Scheidung aber waltet im vernünftigen Teile ob. Also ist das Gedächtnis ein anderes Vermögen wie die Vernunft. III. Nach Augustin (I. c.) stehen das Gedächtnis, die Vernunft und der Wille sich gegenseitig gleich und das eine geht aus vom anderen. Wäre aber die Vernunft dasselbe Vermögen wie das Gedächtnis, so würde dies nicht möglich sein. Auf der anderen Seite ist das Gedächtnis nichts Anderes wie der Platz oder die Schatzkammer für die Ideen. Ein solcher Platz aber ist die Vernunft, wie oben Aristoteles (3. de anima) sagte. Also ist die Vernunft das nämliche Vermögen wie das Gedächtnis.
b) Ich antworte, die Verschiedenheit zwischen den Vermögen habe zur Richtschnur den Unterschied zwischen den Gegenständen. Denn jedes Vermögen wird als solches genannt kraft seiner Beziehung auf das, worauf es sich richtet, nämlich in Beziehung auf den Gegenstand. Hat also ein Vermögen zum Gegenstande eine vielen Dingen gemeinsame Natur oder Eigenschaft, wie das Auge die Farbe; so machen die Verschiedenheiten, welche innerhalb dieser allgemeinen Natur oder Eigenschaft zulässig sind, nicht, daß für eine jede derselben ein anderes Vermögen angesetzt werden muß; wie z. B. das Sehvermögen die verschiedensten Farben zum Gegenstande hat. Die Vernunft aber hat zum Gegenstande das Sein im allgemeinen, also Alles, was und insoweit es Sein hat; denn die „mögliche“ Vernunft kann im Bereiche des Erkennens Alles werden. Also keinerlei Verschiedenheit im Sein des Gegenstandes kann einen Unterschied im vernünftigen Erkennen begründen, soweit die Art des Vermögens in Frage kommt. Nur dieser eine Unterschied ist bei der menschlichen Vernunft zulässig; nämlich der zwischen der „einwirkenden“ und der „möglichen“ Vernunft. Denn es mag der Gegenstand immerhin ein und derselbe bleiben, so muß doch jenes thätig wirkende Princip, welches bewirkt, daß der Gegenstand ein thatsächlich erkennbarer ist, also als ein bestimmendes dasteht, verschieden sein von jenem, welches bestimmt und bewegt wird von dem thatsächlich erkennbaren Gegenstande und demgemäß wirklich erkennt. Und so steht die „einwirkende“ Vernunft zu ihrem Gegenstande in Beziehung wie die thatsächlich bestehende und wirkende Ursache zu einem Sein, was nur im Vermögen ist; — die „mögliche“ Vernunft aber steht zu ihrem Gegenstande in Beziehung wie ein Sein, was nur im Vermögen ist, was demgemäß etwas werden kann, zu dem, was thatsächlich vorhanden erscheint und demgemäß wirkt. Kein anderer Unterschied ist im Vermögen der Vernunft als solchem statthaft. Und sonach ist das Gedächtnis kein besonderes Vermögen. Denn zur Natur eines empfangenden Vermögens gehört es ebensogut, zu bewahren und festzuhalten wie zu empfangen.
c) I. In III. dist. I. Sent. wird gesagt, das Gedächtnis, die Vernunft und der Wille seien drei Kräfte. Das ist aber nicht die Meinung Augustins (14. de Trin. 7.), der da sagt: „Wenn man das Gedächtnis, die Vernunft und den Willen danach betrachtet, daß sie der Seele immer gegenwärtig sind, mag man an sie denken oder nicht, so gehört dies ganz dem Gedächtnisse an. Die Vernunft aber nenne ich das, wodurch wir thatsächlich denkend verstehen; und Willen oder Liebe nenne ich das, wodurch wir das thatsächliche vernünftige Denken als das Erzeugte mit dem Gedächtnisse als dem Zeugenden verbinden.“ Daraus ist klar, daß nach Augustin diese drei Dinge nicht drei Seelenvermögen sind. Er nimmt vielmehr das Gedächtnis für den Zustand der Seele, gemäß dem sie das Aufgefaßte behält; die Vernunft oder das Verständnis für das thätige Denken; den Willen für die Liebe. II. Vergangensein und Gegenwärtigsein können einen Unterschied begründen in den Sinnesvermögen wegen der körperlichen Organe; nicht aber für die Vernunftvermögen. III. Das Verständnis oder das thatsächliche Denken geht vom Gedächtnisse aus wie das Thätigsein vom entsprechenden dauernden Zustande; und so steht es ihm zur Seite; — nicht aber wie ein Vermögen dem anderen.
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