Traktat VIII. Von der Geburt des Herrn II.
1. Die wahre Erkenntnis des unnahbaren Geheimnisses und der ehrfurchtgebietenden Majestät besteht darin, daß man Gott nur als Gott erkennt und daß man von ihm nichts weiter erforschen darf, als daß man seinen Willen kennenzulernen sucht, ohne den man ihm weder in richtiger Weise dienen noch gefallen kann.1 Darüber hinaus noch mit nichtigen Beweisgründen Vermutungen äußern zu wollen über die Bestimmung, die Gott (der Vater) in seiner Vorsehung über Gott (den Sohn) getroffen, ist S. 221 nicht Verehrung, sondern Wahnwitz. Umso mehr, wenn dabei Gott, wie die Streithähne glauben, durch die Bestimmung in ein Unterordnungsverhältnis tritt. Sieht man nämlich dabei nur ein wenig von den Bezeichnungen Vater und Sohn ab, so kann man nicht mehr erkennen, wer von beiden eine Beeinträchtigung auf sich nehmen soll; wenn sie nicht etwa beide trifft; denn beide haben nur den einen Namen Gott. So höre denn, mein Christ, der du ein Neuling im Glauben oder nachlässig bist, damit du dich nicht durch irrige Meinung verführen lassest! Es gibt zwei Geburten unseres Herrn Jesus Christus: eine, über die du keine Nachforschungen anstellen darfst, und eine andere, die du erlaubter Weise verkündigen darfst,2 wenn du dazu in der Lage bist. Die erste Geburt unseres Herrn bleibt allein dem Wissen des Vaters und des Sohnes vorbehalten. Und derjenige, der in gemeinsamem Einverständnis aus der Liebe des väterlichen Mundes hervorgegangen ist, hat nichts, was zwischen ihm und dem Vater läge oder eine Mitwisserschaft besäße. Die zweite aber fand im Fleische statt; und von ihr wissen wir, daß sie in der Erfüllung sich so vollzog, wie es in zahlreichen Prophezeiungen ausgesprochen ist.
2. Denn zur festgesetzten Zeit verbarg Gott, der Sohn Gottes, für eine Weile seine Majestät, verließ seinen himmlischen Thron und schuf sich in dem einem Tempel vergleichbaren Schöße der dafür vorherbestimmten Jungfrau eine Stätte, in die er verborgener Weise eintrat, um einen Menschen hervorzubringen; dort gedachte er zu werden, was er noch nicht war, und doch zu bleiben, was er war. Er vermischte sich mit einem menschlichen Leibe und bildete sich zum Kinde. Der Leib Mariens tritt sich erhebend hervor, nicht infolge von Ausübung ehelicher Pflicht, sondern infolge des Glaubens; nicht durch Mannessamen, sondern durch das Wort. Sie weiß nichts von S. 222 den Beschwerden der zehnmonatlichen Schwangerschaft;3 denn sie hat den Schöpfer der Welt empfangen; sie gebiert nicht in Schmerzen,4 sondern in Freude. Es ist etwas Wunderbares! Jubelnd bringt sie ein Kind zur Welt, das älter ist als die ganze Schöpfung. Und dabei seufzt die Gebärerin nicht, obwohl in solchen Dingen völlig unerfahren. Das Kind begrüßt beim Eintritt in die Welt dieselbe nicht mit Tränen, wie sie gerne dem mühsam dahinschleichenden Leben vorausgehen.5 Nicht liegt die Mutter von der Anstrengung solcher Geburt erschöpft, bleich, am ganzen Leib aufgelöst darnieder. Nicht ist der Sohn durch irgendeinen Schmutz weder von der Mutter noch von sich selbst verunreinigt; es konnte wirklich nichts Unreines der an sich haben, der gekommen war, um das Menschengeschlecht von Sünde, Schmutz und Makeln zu reinigen. Auch die Reinigungen, die bei einer Verzögerung gefährlich sind, waren bei ihr nicht von schädlichen Folgen für den mütterlichen Schoß begleitet.6 Bei der jungen Wöchnerin wurden nicht, wie sonst üblich, warme Umschläge zur Anwendung gebracht; denn, meine Brüder, nicht konnte sie solcher bedürfen, die es verdient hatte, den Heiland aller Seelen als Sohn in ihren Schoß aufzunehmen. Wie groß ist doch das Geheimnis des Heiles! Maria empfing ohne Verletzung als Jungfrau, gebar nach der Empfängnis als Jungfrau, blieb auch nach der Geburt Jungfrau.7 Die Hand der ungläu- S. 223 bigen Hebamme, die eine Untersuchung an der Wöchnerin vorgenommen, geriet zum Zeugnis dafür, daß dieselbe auch nach der Geburt in unveränderter Jungfrauschaft befunden ward, in Brand; als sie aber das Kind berührte, erlosch sofort die verzehrende Flamme. So betrachtete sie, die Heilkünstlerin, die zu ihrem Segen neugierig gewesen, bewundernd in dem Weibe die Jungfrau, in dem Kinde Gott; aufjubelnd in mächtiger Freude ging sie, die zu heilen gekommen, geheilt von dannen.8 So ließ sich Christus in einer Weise als Mensch geboren werden, wie ein Mensch nicht geboren werden kann. Er trug einen Leib ganz in seinem Lichte strahlend9 ohne Schatten. Er war niedrig nach dem Fleisch, erhaben in der Majestät seiner Allmacht. Und nur deshalb ließ er sich herab, sich mit Fleisch zu bekleiden, damit niemand das Fleisch zur Entschuldigung nehme, wenn der Tag des Gerichtes kommt.
Nach dem Texte der Ballerini: Insuspicabilis secreti... vera cognitio est Deum non nosse nisi Deum; nihilque ex eo amplius requirendum, quam ut quis eius noverit voluntatem. Giuliari: ... Deum non esse nisi Deum; nihilque... noverit veritatem. ↩
Nach der Lesart der Ball.; edocere. Giuliaris Lesart: edo-ceri ist handschriftlich nicht begründet und widerspricht in seinem Sinn dem angefügten si possis. ↩
Decem mensium fastidia nescit. Vgl. Vergil. Ecl. IV 61: Matri longa decem tulerant fastidia menses. Dagegen Zeno Trakt. I 2, c. 9: Tu virginali carceri novem mensibus religasti, u. Ö. ↩
Vgl. Gen. 3, 16. ↩
Nach Giuliani Non mundum, ut adsolet, infans fusus Ingrediens sponte vitae reptanti praeviis lacrimis auspicatur. Ballerini:... vitae reptantis. ↩
Nach Giuliari: Denique purgationes, quae sunt tarditate periculosae, nullo maternorum viscerum prosequutae sunt damno, Ballerini; ...nulla puerum maternorum viscerum prosecuta sunt damna. ↩
Vgl. Trakt. I 5. ↩
Die Erzählung findet sich zuerst im Protevangelium Jacobi, weiter bei Klemens von Alexandria (Strom. VII). Hieronymus spielt auf sie an De perpetua virginitate b. Mariae, c. 8. Zeno ist sie wahrscheinlich durch die apokryphe Schrift: De Maria et obstetrice zugeflossen. Vgl. Einleitung, S. 40 f. ↩
Nach der Lesart der BaUerini: Totum... sua luce resplendens corpus sine umbra gestabat. Giuliari: Totus... ↩
