Traktat XX. Zum gleichen Worte der Genesis.1
Geliebteste Brüder, nichts ist für den Menschen, der geboren ist, vor allem so notwendig und angemessen, als sich selbst kennenzulernen. Denn es ist ein Stück Wahnsinn, wenn er, der nicht einmal Aufschluß über sein eigenes Leben geben kann, solchen über das Geheimnis der Natur zu gewinnen sucht; denn die Elemente können in menschlichen Worten nicht schöner und wahrheitsgetreuer zur Darstellung kommen, als sie von Gott geschaffen wurden oder in die Erscheinung treten. Wenden wir deshalb unsern Blick auf das, was uns selbst angeht, darauf, was es bedeutet, wenn Gott sagt: „Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis." „Und es schuf Gott“, heißt es, „den Menschen nach dem Bild und Gleichnis Gottes." Aber an einer anderen Stelle sagt er: „Ich bin, der ich bin, und ich ändere mich nicht."2 Wenn dem so ist, inwiefern trägt der Mensch das Bild Gottes an sich? Sein Antlitz ist jeder Veränderung unterworfen, ändert sich jeden Augenblick infolge von Arbeit, Alter, Krankheit, Freude, Traurigkeit; bald ist es durch Magerkeit entstellt, bald übervoll an Fett; dabei so verschieden, daß es in gleichem Aussehen nicht bei zwei Menschen auf der ganzen Welt sich findet. Und da das auf Gott nicht zutrifft, tragen wir also das Bild Gottes nicht an uns? Das sei ferne, Brüder! Wir haben es vollständig an uns, und zwar ist es sehr deutlich, gerade deshalb, weil es uns, die wir es tragen, nicht bekannt ist. Denn das Bild des unbegreiflichen Gottes muß notwendigerweise unsichtbar sein. Es ist infolgedessen sterblichen Augen nicht zugänglich. Nicht, wenn es eingeht in den Leib, und nicht, wenn es denselben verläßt, kann es von jemand geschaut werden. Und doch ist seine S. 270 Macht eine so große, daß es, obwohl in seiner Wohnstätte wie mit einem Zaun eingeschlossen, jeden Augen* blick alles erleuchtet, was es will. Wir dürfen also unter dem Ebenbild Gottes nicht unsere fleischliche Wohnstätte verstehen, sondern das geistige Bild des himmlischen Menschen, das er uns aus dem barmherzigen Quell seiner Fülle schenkt. Diese Deutung hat deutlich Paulus ausgesprochen, wenn er sagt: „Wie wir das Bild des aus Staub Gebildeten getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen."3 Und diejenigen, die es in ehrfurchtsvoller Weise tragen, wie es die Apostel und die Gerechten getan, werden nicht nur das Bild, sondern auch Gott selbst tragen; denn ebenso steht geschrieben: „Ihr seid der Tempel Gottes, und der Heilige Geist wohnt in euch."4
