Traktat XIX. Zum Worte der Genesis: Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis.1
Geliebteste Brüder! Nichts ist für den Menschen, der Gott fürchtet, vor allem so notwendig und angemessen, als sich selbst kennenzulernen. Es ist ein Stück Wahnsinn, wenn er, der nicht einmal Aufschluß über sein eigenes Leben geben kann, solchen über das Geheimnis der S. 268 Natur zu gewinnen sucht. Durch menschliche Vermutungen kann schlechterdings das Wesen der Natur nicht erfaßt werden: er allein kennt es, der es geschaffen. Wenden wir deshalb unsern Blick auf das, was uns selbst angeht, darauf, was es bedeutet, wenn Gott sagt: „Lasset uns den Menschen machen nach unserm Bild und Gleichnis.„ Und „es schuf Gott“, so heißt es, den Menschen „nach dem Bild und Gleichnis Gottes„, Aber an einer andern Stelle sagt er: „Ich bin, der ich bin, und ich ändere mich nicht.“2 Wenn dem so ist, inwiefern trägt der Mensch das Bild Gottes an sich? Sein Antlitz ist leidensfähig, ist jeder Veränderung unterworfen, ändert sich auch jeden Augenblick infolge von Arbeit, Alter, Krankheit, Zorn, Freude, Traurigkeit, ja nimmt so viele Züge an, als Gemütsbewegungen sich bei ihm geltend machen; es vergeht nicht ein einziger Tag, an dem es ganz sich selbst ähnlich zu sein scheint. Wenn nun das so und nicht anders ist, tragen wir dann das Bild Gottes nicht an uns? Ja, wir haben es vollständig an uns, und zwar ist es sehr deutlich, gerade deshalb, weil es uns, die wir es doch tragen, nicht bekannt ist. Denn das Bild des unbegreiflichen Gottes muß notwendigerweise unsichtbar sein. Es ist infolgedessen dem Auge des Fleisches nicht zugänglich. Nicht, wenn es eingeht in unseren Leib, und nicht, wenn es denselben verläßt, kann es von jemand entdeckt werden; und doch ist seine Macht eine so große, daß es, obwohl in seiner Wohnstätte wie mit einem Zaune eingeschlossen, jeden Augenblick alles erleuchtet, was es will. Wir dürfen also unter dem Ebenbild Gottes nicht unsere fleischliche Wohnstätte verstehen, sondern das geistige Bild des himmlischen Menschen: es ist jenes Bild, das der Herr denen, die an ihn glauben und in der himmlischen Geburt neu geboren worden,3 aus dem barmherzigen Quell seiner Fülle schenkt. S. 269
