Traktat XXII. Zu Isaias, I.1
1. „Höre, o Himmel, und horche auf, o Erde, denn der Herr redet: Söhne habe ich gezeugt und erhöht, sie aber haben mich verschmäht!“2 Die Anfangsworte dieses Buches rufen die große Sünde des Volkes der Juden in die Welt hinaus und lassen die Entrüstung und den S. 275 Zorn Gottes erkennen, wenn sie sich an andere Leute richten mit der Mahnung, das Wort Gottes besser zu hören. Denn ihre Schuld ist nicht gering, wenn das Gotteswort, das allezeit bei ihnen verkündet ward, nun mehr anderen zugewandt wird. Daher bedeutet die Verwerfung der Juden die Auserwählung anderer Leute: denn aus dem Umstände, daß andern nahe gelegt wird, das Wort Gottes zu hören, ergibt sich, daß Israel als verworfen gilt. Indem der Prophet sagt: „Höre, Himmel und Erde“, bringt er zum Ausdruck, daß die Juden es verschmäht haben, ihn zu hören.
2. „Höre„, sagt er, „o Himmel und horche auf, o Erde!“ Hat der Prophet mit den Worten: „Höre, Himmel und Erde„ etwa von dem Himmel und der Erde gesprochen, die vor uns stehen? Hat er sich etwa über sie beklagt, als ob Himmel und Erde niemals aufgehorcht hätten?3 Himmel und Erde leisten dem Befehl des Herrn Gehorsam: der Himmel verweigert nicht den Regen, die Erde nicht die Früchte. Dieses prophetische Wort sollte sich erfüllen in den letzten Zeiten vor der Ankunft unseres Herrn und Erlösers, der nicht von den Völkern der Juden gehört werden sollte; aber weil die Apostel und die Angehörigen der Heidenvölker ihn hören sollten, sprach er: „Höre, Himmel und Erde!“ Denn daß unter den Himmeln die Apostel zu verstehen sind, bezeugt der Prophet durch einen klaren Ausspruch der Wahrheit,4 der da sagt: „Und ich werde die Himmel anschauen, die Werke deiner Finger.„5 Er spricht hier sicher nicht von den Himmeln über uns, die er ja immer geschaut hatte, sondern von den Aposteln, die er zu schauen verlangte. Und ein andermal: „Es bedeckte die Himmel seine Kraft“;6 deshalb, weil der Heilige Geist die Apostel zur S. 276 Vollbringung ihrer Wundertaten überschattet und bedeckt. Und abermals: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“7 Auch an dieser Stelle meint er nicht, daß die Himmel (über uns) reden — sie hat noch niemand reden gehört — sondern er hat die Apostel bestellt, und durch ihre Predigt ist die Herrlichkeit des Herrn allenthalben auf der Welt verkündigt worden. Daß sodann unter der Erde die Menschen zu verstehen sind, beweisen zahlreiche Aussprüche von Propheten. So heißt es: „Jauchzet (Gott zu), alle Lande„,8 und an einer anderen Stelle: „Höre, Erde, von meinem Munde!“9 Mit diesem Wort haben sie zweifellos die Heiden gemeint, deren Werke bis dahin noch irdisch waren. Also, wenn es heißt: „Höre, Himmel und Erde„, so ist damit gemeint, daß Christus der Herr, nachdem ihn die Juden nicht hörten, von den Aposteln und Heidenvölkern gehört werden sollte.
3. „Ich habe Söhne gezeugt und sie erhöht.“ Das ist ein Wort des Herrn, in dem er schon damals durch den Mund des Propheten den ungläubigen Juden Vorwürfe machte, ein Wort, das bereits auf die zukünftigen Ereignisse aufmerksam machte, bevor sie eintraten. Denn Gott ist es eigen, die Vergangenheit zu kennen und die Zukunft vorauszusehen. „Ich habe Söhne gezeugt und sie erhöht„, sagt er. Die Juden hatten sich durch ihren grenzenlosen Unglauben den verdienten Haß Gottes zugezogen. Und ebenso groß, als die Gnade war, die er ihnen in seiner Liebe zuwandte, ebenso groß wird die Strafe werden für ihre Sünde. Es liegt auf der Hand, daß ein Sohn, den der Vater am heißesten geliebt hat, wenn er sich vergeht, besonders schwer bestraft wird. So groß die Liebe ist, die ein geliebter10 Vater dem geliebten Sohne S. 277 zugewandt, ebenso groß ist die Strafe, die er verlangt, wenn er gekränkt wird; vergilt der geliebte Sohn die Liebe nicht mit gleichem, so wird er verstoßen und empfängt das verdiente Strafurteil. Gar nicht sagen läßt es sich, wie groß bei einem Menschen, dessen Gottlosigkeit die väterliche Liebe nicht in gleichem Maße erwidert, das Verbrechen ist, Gott, denVater, nicht zu lieben, wenn's doch schon Sünde ist, einen Menschen nicht zu lieben.11 Und darum sind die Juden unglücklich und elend, sie, die Gott, den Vater, von dem sie gezeugt wurden, verschmähten, ohne ein Gedenken an diese so große Ehre, ohne ein Verstehen für diese so große Würde. Was gibt es denn Beglückenderes, als wenn Gott sich herabläßt, den Menschen die Ehre zu erweisen und sie als ihr Vater anzusehen, als wenn seine erhabene Majestät die Armseligkeit des Menschen wert und lieb hält? „Ich habe“, sagt er, „Söhne gezeugt.„ Was ist es Süßes, wenn Gott das von Menschen sagt! Und was ist es Erbärmliches, wenn man einen solchen Vater kränkt! „Ich habe Söhne gezeugt und erhöht.“ Ja, der Herr hat Israel Söhne gezeugt, als er Abraham auserwählte, aus dem solche hervorgehen sollten.12 Er hat solche Israel in Ägypten gezeugt, als es aus wenig Eingewanderten zu einer großen Zahl heranwuchs13 und als er es „mit starker Hand und erhobenem Arm durch die Wüste führte„. 14 Israel ist erhöht worden, als drei Tage hindurch Finsternis und Nebel ganz Ägypten einhüllte.15 Israel ist erhöht worden, als es von den so vielen und so starken Plagen der Ägypter allein nichts zu fürchten hatte, nichts zu spüren be- S. 278 kam.16 Es wurde erhöht.17 Was war es, als er es mitten durch das Meer auf einem Pfade auf (trockenem) Grunde führte? 18 Was war es, als ihm in der Wüste täglich Manna vom Himmel,19 Trank aus dem Felsen wurde?20 Was war es, daß durch ein Holz das bittere zu einem süßen Wasser wurde, 21 das wir durch das Holz des Kreuzes ohne die Bitterkeit des Heidentums trinken sollen? Israel wurde erhöht, als es sicher vom Horeb an den Jordan gelangte.22 Was war es, als Gott täglich mit ihm sprach? „Sie aber haben mich verschmäht.“ Sie haben ihn nämlich ans Kreuz geschleppt, an das Kreuz, durch das sie dereinst Pharao entronnen waren.23 Aber es heißt wiederum: „Die Tochter Sions wird verlassen stehen.. .“ 24
Traktat XXII und die folgenden beschäftigen sich mit Stellen aus Isaias, und zwar Traktat XXII—XXVI mit Js. 1, 2, Traktat XVII und XXVIII mit Js. 5, 4. Die größere Zahl von Traktaten für dieselbe Stelle legt es nahe, an eine bestimmte liturgische Zeit zu denken. Es ist wahrscheinlich, daß sie in der Fasten- oder Passionszeit gehalten wurden, deren Charakter Lesungen aus den Propheten nahelegte. Damit steht es im Einklang, daß gelegentlich hervorgehoben wird, daß die Feier heiliger Geheimnisse, wie sie in der Passionszeit statt fanden, Kürze notwendig machte (vgl. Traktat XXVIII). Auch die mehrfache Bezugnahme auf Katechumenen und Kompetenten (vgl. Traktat XXII und XXVII) weist darauf hin. Die Textüberlieferung des Traktates XXII ist schlecht, und die Herausgeber sahen sich vielfach auf Konjekturen angewiesen. Und nach allem ist der Traktat auch nicht voll ständig: er bricht unvermittelt ab. ↩
Js. 1, 2. ↩
Der Originaltext ist schwer herzustellen; die Übersetzung entspricht dem Sinne. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: Coelos autem apostolos esse claro testimonio veritatis affirmat (Giuliari: darum testimonium veritatis affirmat). ↩
Ps. 8, 5. ↩
Hab. 3, 3. ↩
Ps. 18, 2. ↩
Ebd. 65, 1. ↩
Der Text audi, terra, ex ore meo stellt einer der vorhieronymianischen Bibel angehörige Textvariante dar. ↩
Die Ausgaben bieten: quantam pietatem dilecto filio amatus pater exhibuit. Dem Sinne würde wohl besser amans pater entsprechen. ↩
In dem Satze: Cuius impietas, paterno affectui parem gratiam non referre, quantum sit criminis dici non potcst Deum patrem non dilexisse, cum peccatum sit, hominem non amasse (Ballerini: Cuius enim impietas paterno affectui parem gratiam non refert, quantum sit...) liegt ebenfalls eine Text verderbnis vor. ↩
Vgl. Gen. 12, 2; 17, 4. 5. ↩
Vgl. Exod. 1, 7. 20. ↩
Ps. 135, 12. ↩
Exod. 10, 22. ↩
Vgl. Exod. 12. ↩
Die handschriftliche Überlieferung des Textes in den folgenden Sätzen ist unklar. Die Übersetzung schließt sich im wesentlichen an die Lesarten Giuliaris an. ↩
Vgl. Exod. 14, 21. 22; Ps. 135, 13. 14. ↩
Exod. 16. ↩
Exod. 17. ↩
Exod. 15, 25. ↩
Deut. 1. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: ad crucem perduxerunt, per quam crucem evaserunt Pharaonem. Giuliari schlägt vor: ... per quam crucem evaserunt Pharaonem, oder: per quam crucem evaserunt Pharaonis. ↩
Is. 1, 8. ↩
