Traktat XXI. Vom hundertsten Psalm.1
1. Leute, die sich nur oberflächlich mit dem heiligen Gesetz beschäftigen, verfallen des öftern in großen Irrtum, wenn sie den Zusammenhang der Sätze nicht berücksichtigen oder zu wenig nach dem Sinne forschen. Wenn nun in dem Psalm, über den wir gerade sprechen, der Prophet bemerkt: „Von Barmherzigkeit und dem Gericht will ich dir lobsingen, o Herr„,2 wie kann dann der Herr im Evangelium sagen: „Wer an mich glaubt, der wird nicht gerichtet; und wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet“?3 Er nimmt in diesen Worten die Gläubigen vom Gericht aus,4 die Ungläubigen hat er von vornherein S. 271 vom Gericht ausgeschlossen. Wenn nun aber beide Parteien nicht zu einem Gericht kommen, wie soll denn jedem der Lohn nach seinen Werken gegeben werden? Wenn der Ungerechte nicht für die schlimmen Taten, die er vollbracht, eine Vergeltung empfängt, hat der Gerechte keinen Grund mehr, sich abzumühen. Nein, so wie unverständige Leute glauben, ist das nicht zu verstehen. Das Gewicht, das diesem Satz zukommt, den Sinn, in dem er gesprochen wurde, macht schon die eigentümliche Bedeutung der Worte klar. Es heißt: „Wer an mich glaubt, wird nicht gerichtet werden.„ Ganz richtig: Weshalb braucht ein Gläubiger noch gerichtet zu werden? Ein Gericht findet nur statt, wenn die Sachlage zweifelhaft ist. Fällt die Zweifelhaftigkeit weg, so bedarf es keiner Prüfung von seiten eines Gerichtes. Aus demselben Grund brauchen auch die Ungläubigen nicht gerichtet zu werden: sie sind infolge ihres Unglaubens schon verdammt. So bringt einer5 schon aus diesem Leben seine Krone oder seine Strafe mit sich. Diese Anschauung hat David in seinem ersten Psalm in die Worte gefaßt: „Die Gottlosen werden nicht auferstehen im Gericht und die Sünder nicht in der Versammlung der Gerechten.“6 Er hat damit nach Maßgabe der Verdienste abstufend gewissermaßen schon in der Wahl des Ausdrucks, in ganz wenig Worten das Gericht des ganzen Menschengeschlechtes charakterisiert. Denn derselbe Unterschied, der zwischen dem „Gerechten„ und dem „Sünder“ besteht, derselbe Unterschied besteht auch zwischen dem „Sünder„ und dem „Gottlosen“. Er läßt demnach auch für die Gottlosen kein Gericht übrig,7 weil sie infolge ihrer Gottlosigkeit schon voraus gerichtet sind; und die Sünder, die tatsächlich noch zu richten sind, erachtete S. 272 er nicht für würdig der Anteilnahme an der Versammlung der Gerechten, die nicht mehr gerichtet werden.
2. Wenn demnach die Gerechten für das ewige Leben, die Gottlosen für die ewige Strafe bestimmt sind und sie beide keinerlei richterliche Untersuchung mehr erwartet, müssen wir doch fragen, wer nun diejenigen sind, für die ein Gericht in Aussicht steht. Und von wem könnten wir es erfahren, als von dem Herrn selbst, der seinen (vorher erwähnten) Satz weiter führt mit den Worten: „Das aber ist das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist und die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht.„8 Damit hat er sicher die schwankenden und unsicheren Christen bezeichnet, die zwischen den Frommen und den Gottlosen in der Mitte stehen, die sich keiner Partei ganz anschließen, weil sie nicht aufhören, es mit beiden Parteien zu halten. Sie sind nicht gläubig, weil sie einen Einschlag von Unglauben aufweisen. Sie sind nicht ungläubig, weil sie das Bild des Glaubens an sich tragen, da sie nach ihrem Bekenntnis9 Gott, freilich nach ihrem Tun der Welt dienen. Sie wollen das Gesetz kennen, aber sie wollen nicht dessen Gebote halten. Sie verehren das heilsame Zeichen (des Kreuzes), wollen aber auch die Mysterien der Dämonen nicht lassen. Viel hält die Furcht vor Gott in der Kirche zurück, aber zugleich zieht sie die Lust der Welt an sich. Sie verbleiben nicht gottlos, weil ihnen der Name Gottes in Ehren steht; aber sie sind nicht fromm, weil sie den anbetungswürdigen Vater durch ihr schlechtes Leben beleidigen. Sie beten, weil sie fürchten. Sie sündigen, weil sie wollen. Daher ist die Schuldfrage nicht völlig geklärt, wo zwei sich entgegenstehende Parteien ein Gericht fordern mit der Aufgabe, die Liebe zu ihnen abzuwägen. Solang die Zwiespältigkeit nicht erörtert ist, kann über sie nicht nach Recht eine Entscheidung getroffen werden. Wer sind nun die Menschen, welche solche Zwiespältigkeit S. 273 einem Gericht über sie vorbehält? Sicher diejenigen, die (wie der Apostel sagt) „Gott erkannten und ihm trotzdem nicht Lob und Dank sagten, deren Gedanken sich durch eitle Meinungen abführen ließen und deren Herz verfinstert ward.“10 so daß sie die Finsternis mehr als das Licht, die Schöpfung mehr als den Schöpfer liebten.
3. Es gibt infolgedessen drei Arten von Gericht. Das erste ist das der Gerechten; sie werden, wie gesagt, nicht nur nicht gerichtet werden, sondern vielmehr selbst diese Welt richten nach dem Worte des Apostels: „Wisset ihr nicht, daß die Heiligen diese Welt richten werden?“11 Das zweite ist das der Gottlosen; sie werden nicht erst gerichtet, weil sie schon gerichtet sind, werden vielmehr dem Verderben verfallen, wie die Schrift sagt: „Der Weg der Gottlosen führt ins Verderben.„12 Das dritte ist das der Sünder; bei ihnen ist es eine Notwendigkeit, die Geheimnisse ihres verkehrten und nach beiden Seiten neigenden Lebens zu prüfen. Beides hat der Apostel im Auge, der da sagt: „Denn diejenigen, die ohne das Gesetz gesündigt haben, werden ohne Gesetz dem Verderben anheimfallen; und diejenigen, die im Besitz des Gesetzes gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden.“13 Seht ihr nun, Brüder, daß ein großer Unterschied besteht zwischen dem, der schon verurteilt ist, und dem, der erst gerichtet werden muß? Diese (verschiedenen) Arten von Gericht halten auch die Menschen ein, auch wenn sie sonst noch so ungerecht sind. Kein Hausvater hält über einen Knecht, der ihm den ehrlich erworbenen Gewinn treuer Arbeit übergibt, ein Gericht ab, sondern ehrt ihn wie einen Sohn. Einen andern, den er bei Giftmischerei, bei Ehebruch, bei Mord, bei falscher Zeugnisabgabe, bei Betrug ertappt, übergibt er sofort dem Stockmeister, nicht um ihn zu verhören, sondern um an ihm die gebührenden Strafen vollziehen zu lassen. Dagegen einen dritten, den er auf einem Betrug ertappt, der aber seinen Betrug mit beschönigenden Gründen ent- S. 274 schuldigt, behält er zur Untersuchung zurück: es soll über ihn in Abwägung des entstandenen Schadens und in Berücksichtigung des geretteten Eigentums 14 ein dem Recht entsprechendes Urteil gefällt werden, insoweit er (nach der Untersuchung) als Schuldner erscheint. Es wird demnach so sein: den Gerechten wird die Krone, den Sündern, soweit sie Entschuldigung haben oder sich gebessert haben, Verzeihung, den Gottlosen aber ewige Strafe zuteil durch den Herrn Jesus Christus, der mit dem Heiligen Geist gepriesen ist in alle Ewigkeit.
Auch die Ausführungen dieses Traktates weisen zum Teil wörtliche Berührungspunkte mit Hilarius tractatus in psalmum I auf. ↩
Ps. 100, 1. ↩
Joh. 3, 18. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: eximit iudicio fideles (Giuliari: exemit) ↩
Nach der Lesart der Ballerini: ex hac enim vita quis secum ... portat. (Giuliari gibt handschriftlich und auch dem Sinne nach unbegründet... quisque secum.) ↩
Ps. 1, 5. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: … iudicium … non derelinquit (Giuliari: … dereliquit) ↩
Joh. 3, 19. ↩
Anspielung auf das Taufbekenntnis ↩
Röm. 1, 21. ↩
1 Kor. 6, 2. ↩
Ps. 1, 6. ↩
Röm. 2, 12. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: ut ponderatis damnis rebusque servatis sententiam... possit expromi. (Giuliari bietet, zwar dem Sinne entsprechend, aber handschriftlich nicht begründet: ... damnis iuribusque servatis.) ↩
