Traktat XLIII. An die Neugetauften nach der Taufe. VI.
Die zwölf Zeichen.1
1. Himmlische Völker, ihr neuen Unterpfänder in Christus, freuet euch! Habet aber zugleich mit unablässiger Sorgfalt acht, daß ihr den Glanz eures heutigen blühenden geistigen Aufgangs durch keinen Pakt2 je befleckt; S. 301 er kann nicht nochmals gewähren, was er euch gibt. Sehet, Kinder, Jünglinge, Männer, Greise beiderlei Geschlechts: ihr wäret schuldig, ihr wäret unrein durch eure weltliche Geburt. Jetzt seid ihr frei von jeder Schuld, seid reine Kinder. Und was besonders wunderbar und angenehm ist: ihr, die ihr verschiedenen Lebensaltern angehört, seid plötzlich in einem einzigen Augenblick gleichen Alters geworden. Aber ich kenne sehr wohl eure Neugier. Noch macht das alte Leben seine Rechte geltend — in Zukunft darf das freilich nicht mehr bei euch sein — und so stellt ihr vielleicht an uns die Frage, unter welchem Geburtsstern, unter welchen Zeichen euch, die ihr von verschiedenen Seiten gekommen, die ihr so viele, die ihr so ungleich seid, eure eine Mutter in einer Geburt geboren. Wie Kindern will ich euch den Willen tun und in aller Kürze die Geheimnisse des heiligen Horoskops dartun.
2. Also, Brüder, mit eurem Werden war es so. Es hat der erste, der niemanden, der an ihn glaubt, zurückstößt, euch aufgenommen. Aber nicht als Widder,3 sondern als Lamm. Mit der schneeigen Weiße seines Fließes hat es eure Blöße bekleidet; nachsichtsvoll hat es seine beseligende Milch euren vom Wimmern geöffneten Lippen eingeflößt. Ebenso richtet er nicht als Stier mit sich aufbäumendem Nacken, mit Wildheit verratender Stirne, mit drohendem Hörne, sondern als bestes, süßes, liebes und sanftes Kälblein an euch seine Mahnung, bei keinem Werke nach Zeichen aus dem Vogelflug zu haschen, sondern sich fromm unter sein Joch zu beugen, das Land eures Fleisches durch dessen Beherrschung fruchtbar zu gestalten und so eine reiche Ernte aus dem göttlichen Samen in die himmlischen Scheuern einzu- S. 302 bringen. Und ebenso mahnt er euch durch die nachfolgenden Zwillinge, nämlich die zwei das Heil verkündenden Testamente, daß ihr vor allem fliehet den Götzendienst, die Unkeuschheit und die Habsucht. Die letztere wird versinnbildet durch den unheilbaren Krebs. Unser Löwe aber ist, wie die Genesis bezeugt,4 ein junger Löwe, dessen fromme Heilsgeheimnisse wir soeben feiern: er hat sich zu diesem Zweck niedergelegt und ist entschlafen, um den Tod zu besiegen; er ist zu diesem Zweck aufgewacht, um uns als Geschenk seiner Auferstehung die Unsterblichkeit zu bringen. Ihm folgt nach der Reihe die Jungfrau, die ihrerseits die Waage ankündigt: daraus sollen wir erkennen, daß durch den Sohn Gottes, der mit dem Fleisch bekleidet aus der Jungfrau hervorging, auf die Erde Gleichheit und Gerechtigkeit gebracht ward. Und wer sie standhaft festhält und ihr treu dient, den werde ich nicht einen Skorpion nennen; er wird im Gegenteil, wie der Herr im Evangelium sagt,5 alle Schlangen mit unverletzter Ferse vollständig zertreten. Aber auch den Teufel selbst wird er nicht fürchten, ihn, der da ist in Wahrheit der schärfste Schütze: denn er ist bewaffnet mit feurigen Geschossen aller Art und hält jeden Augenblick die Herzen der ganzen Menschheit in Spannung: deshalb sagt der Apostel Paulus; „Leget an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr standhalten könnt gegen die Ränke des Teufels. Ergreifet den Schild des Glaubens, mit dem ihr alle Geschosse des Bösen, die da voll Feuer sind, auslöschen könnt!" 6 Zuweilen läßt er auf die Unseligen den Steinbock los, der häßlich ist vom Anblick; durch die bleifarbenen Lippen dieses kleineren Gehörnten speit er aus seinen kochenden Adern Gift aus und wütet elendiglich in allen Gliedern des Gefangenen, so daß dieser zitternd zugrunde geht.7 Die einen bringt er von Sinnen, die S. 303 andern treibt er zur Raserei, die andern, macht er zu Mördern, die andern zu Ehebrechern, die andern zu Gottesräubern, die andern zu Blinden vor Habsucht.8 Es führt zu weit, ins einzelne zu gehen. Er verfügt über verschiedenartige und zahllose Mittel zu schaden. Aber sie alle pflegt ohne große Mühe unser Wassermann, überströmend vom Wasser des Heiles, zu vernichten. Ihm folgen notwendigerweise die zwei Fische in einem Zeichen: das sind die zwei Völker aus Juden und Heiden, die lebend im Wasser der Taufe zu einem Volke Christi unter einem einzigen Zeichen gesiegelt sind.
Gemeint sind die zwölf Zeichen des Tierkreises. Der Traktat stellt eine allegorische Deutung derselben dar in Bezugnahme auf die geistige Wiedergeburt durch die Taufe. Die Rheimser Handschrift enthält die Randbemerkung: Ad s Stephanum ad martyres secunda feria paschae legenda in ambone, antequam pontifex consignationem Sancti Spiritus celebrare incipiat. Die Erwähnung der Kirche ad s. Stephanum ad martyres verweist die Entstehung der Handschrift nach Verona. Vgl. Einleitung S. 17. Im übrigen läßt die Bemerkung erkennen, daß zur Zeit der Entstehung der Handschrift die Firmung am Ostermontag erteilt wurde: ein Brauch, wie er auch sonst im frühen Mittelalter bezeugt ist, wie in der Vita s. Udalrici, auctore Gerhardo, c. 4. Im Altertum und auch in Verona .zur Zeit Zenos schloß sich die Firmung unmittelbar an die Taufe an. ↩
Im Gegensatz .zu dem in der Taufe mit Christus geschlossenen pactum. ↩
Die Zeichen (Teile) des Tierkreises wurden schon im Altertum der Reihe nach vom Frühlingspunkt an gerechnet, so daß als erstes das Zeichen des Widders erscheint. Vgl. Aug. haeres. 70. Für die Betrachtung Zenos legte sich das besonders nahe, da Ostern, der Tag der Taufe und Wiedergeburt, unter das Zeichen des Widders fiel. ↩
Gen. 49, 9. ↩
Luk. 10, 19. ↩
Eph. 6, 11. 16. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: ... immittit Capricornum vultu deformem, et per cornu exilioris labra liventia spumantibus venis ebulliens, palpitante ruina captivi tota miserabiliter per membra desaevit. Giuliari emendiert ohne handschriftliche Begründung: immittit Capricornum vultu deformem; qui cornu exiliens, et labra liventia spumantibus venis ebulliens, palpitante arvina captivi tota miserabiliter per membra desaevit. ↩
Nach der Lesart der Ballerini: alios avaritia efficit caecos. Giuliari streicht avaritia. ↩
