Traktat XLII. An die Neugetauften nach der Taufe. V.
Seid gegrüßt, Brüder, die ihr heute in Christus geboren seid! Bewahret sorglich, tapfer und treu das königliche Geschenk des Nachlasses, den ihr erhalten! Denn alles, was ihr euch durch euer Tun zugezogen, ist weggenommen. Freuet euch: ihr seid geborgen. Ihr schuldet der Welt nichts mehr. Sehet, nicht mehr lasten, nicht mehr klirren auf eurem Nacken die Ketten der Welt. Nicht mehr behindern Bande eure Hände, nicht mehr drücken Fesseln eure Füße. Kein Schrecken läßt euch mehr auffahren, kein Schmutz verdunkelt euch. Ihr fürchtetet den Mitwisser eurer Tat; nun fürchtet ihr euer eigenes Gewissen nicht. Euer alter Mensch ist zu eurem Heil verurteilt worden, um darnach frei zu werden. In der Woge des heiligen Quells wurde er begraben, um im Nest dieses Grabes1 neubelebt zu werden und die Rechte der Auferstehung zu kosten. O wie groß ist die Vorsehung unseres Gottes! O wie rein ist die Liebe unserer guten Mutter! Sie nimmt sie auf, die verschieden sind an Herkunft, an Geschlecht, an Alter, an Stand; sie tötet sie in Haß gegen ihre Vergehen, wie eine Stiefmutter; aber sie bewahrt sie in Liebe, wie die wirkliche Mutter. Und die Getöteten macht sie nicht eher wieder lebendig, bis sie das Gift ihres früheren Seins vollständig ausgetilgt hat: sie will nicht etwas gebären, was mit schlechten Bestandteilen durchsetzt ist.2 Und damit es nicht scheine, als ob sie den einen mehr, den andern weniger liebe, schenkt sie allen eine Geburt, eine Milch, einen Lohn,3 eine Würde des Heiligen Geistes. Wie schön S. 300 und heilsam ist es, Brüder, einen zu bewundern, den man vor kurzem noch verlacht. Dessen Verdorbenheit du verwünschtest, den wünschest du jetzt in seiner Tugend nachzuahmen* Ihn, dessen Geiz du verabscheutest, staunst du jetzt an, wenn er allenthalben sein Hab und Gut an die Armen und Dürftigen verschenkt. Ja, schließlich: den du als einen Tempel des Götzendienstes kanntest, er ist jetzt zu deiner Freude ein Tempel Gottes. Selig ist allezeit, wer sich erinnert, daß er wiedergeboren ist; seliger noch, wer sich nicht mehr erinnert, was er war, bevor er wiedergeboren worden; am seligsten aber doch, wer seinen Kindschaftssinn nicht ändert, auch wenn die Zeit vorwärts schreitet!
Anspielung auf die Sage vom Vogel Phönix; vgl. Trakt. I 16, 9. S. 194 Anm. 2. ↩
Nach der Texteinteilung von Giuliari: necatosque non ante vivificat, quam omne virus vetustatis exstinguat, ne quid adulterum pariat; ac ne quem plus amare videatur. ↩
Unum Stipendium wird zuweilen, wohl kaum mit Recht, auf die Spende des Golddenars bezogen; vgl. die Anm. 2 2U Trakt. II 35, S. 291. ↩
