Elfter Artikel. Gottes Wesen wird in diesem Leben von keinem sterblichen Menschen geschaut.
a) Diese Behauptung scheint gegen die Schrift zu sein: I. Genes. 32, 30. heißt es von Jakob. „Ich habe Gott gesehen von Angesicht zu Angesicht.“ Das bedeutet aber offenbar, das Wesen Gottes schauen. Denn Paulus sagt (1. Kor. 13.): „Wir sehen hier im Spiegel und in Rätseln, dort aber von Angesicht zu Angesicht.“ Also scheint es, daß Gottes Wesen bereits in diesem sterblichen Leben gesehen werden kann. II. Ähnlich sagt der Herr über Moses (Num. 12, 8.): „Von Mund zu Mund spreche ich zu Ihm.“ Wer aber so mit dem Herrn spricht und nicht in Figuren und Rätseln, der sieht Gott. Gott sehen ist jedoch ebensoviel wie sein Wesen erkennen. Also kann jemand während dieses Lebens Gottes Wesen sehen. III. Worin wir alles Andere erkennen und wodurch wir über das andere urteilen, muß uns vor allem anderen aus sich allein heraus bekannt sein. Wir erkennen aber schon jetzt alles Andere in Gott. Denn Augustinus sagt (12. Conf. c. 25.): „Wenn wir beide sehen, daß es wahr ist, was du sagst; und wenn wir beide sehen, daß es wahr ist, was ich sage; worin doch sehen wir dieses Wahre? Weder du siehst es in mir noch ich in dir; wir beide aber sehen es in der über all unsere Vernunft hervorragenden unabänderlichen Wahrheit selber.“ Dasselbe drückt er im lib. de vera religione (c. 21.) aus: „Wir urteilen über alles gemäß der göttlichen Wahrheit“; und 12. de Trin. (c. 2.) sagt derselbe Augustin: „Es sei der Vernunft zugehörig, über diese körperlichen Dinge zu urteilen nach den unkörperlichen und ewigen Gründen; die da, wenn sie nicht über unserem Geiste wären, unveränderlich ohne allen Zweifel keineswegs sein würden. Also sehen wir Gott bereits in diesem Leben. IV. Derselbe große Kirchenlehrer schreibt ferner (12. sup. Gen. ad litt. c. 25): „Vermittelst des rein vernünftigen Anschauens werden die Dinge, die in der Seele sind, kraft ihres Wesens gesehen.“ Das rein vernünftige Anschauen aber hat zum Gegenstande rein Vernünftiges; und dies nun wird nicht geschaut vermittelst besonderer Ähnlichkeiten, sondern kraft des inneren vernünftigen Wesens, welches in der Seele ist. Da also Gott seinem Wesen nach in unserer Seele gegenwärtig ist, wird auch sein Wesen von uns erkannt. Auf der anderen Seite wird im Exodus (33, 20.) gesagt: „Kein Mensch wird mich sehen und zugleich leben“ und die Glosse fügt hinzu: „Wie lange man hier im irdischen Leben weilt, kann man wohl Gott sehen vermittelst einiger Ahnlichkeiten und Bilder; aber durch sein eigenes göttliches Wesen kann man Ihn nicht sehen.“
b) Ich antworte; diese beiden Dinge können nicht zugleich sein: Gottes Wesen schauen; und in diesem sterblichen Leben weilen. Der Grund davon ist, wie oben hervorgehoben worden, daß die Art und Weise des Erkennens der Art und Weise entspricht, wie die Natur der erkannten Sache wirkliches Sein hat. Unsere Seele aber hat, solange wir in diesem Leben uns befinden, ihr natürliches Sein nur in und mit dem körperlichen Stoffe. Also kann sie mit natürlichen Kräften nur das erkennen, dessen Natur oder Wesen Sein im Stoffe hat oder vermittelst solchen Seins erkannt wird. Nun ist es offenbar, daß vermittelst der Naturen, welche im Stoffe allein Existenz haben, das göttliche Wesen nicht erkannt werden kann. Denn es ist gezeigt worden, daß die Kenntnis Gottes, wie sie durch irgend welche geschaffene Ähnlichkeit oder durch ein geschöpfliches Bild erhalten wird, kein Schauen seines Wesens ist. Sonach ist es der menschlichen Seele, soweit sie in diesem irdischen Leben weilt, unmöglich, das Wesen Gottes zu schauen. Davon ist es ein Zeichen, daß unsere Seele um so mehr geeignet wird, solche Wahrheiten zu verstehen, die einigermaßen vom Stoffe losgelöst sind, je mehr sie von den Banden des Körperlichen entfernt erscheint. Daher kommt es auch, daß in Träumen und in Verzückungen, wo die Sinne sich zurückgezogen, Offenbarungen von seiten Gottes mehr wahrgenommen werden und ebenso das Voraussehen der Zukunft in höherem Grade statthat. Daß also unsere Seele zur Anschauung der höchsten Wahrheit erhoben werde, nämlich des höchsten Gegenstandes, des göttlichen Wesens, während sie noch in diesem sterblichen Leben weilt, das ist eine reine Unmöglichkeit.
c) I. Nach Dionysius (de cael. Hier. c. 4.) hat die Schrift den Gebrauch, dann von jemandem zu sagen, er hätte Gott gesehen, wann und insoweit sinnlich wahrnehmbare und in die Phantasie eingeprägte Figuren gebildet worden sind, welche gemäß einer gewissen Ähnlichkeit eine göttliche Vollkommenheit vorstellen. Was also Jakob sagt, bezieht sich nicht auf das göttliche Wesen selber, das er „von Angesicht zu Angesicht gesehen“ hätte; sondern auf eine Figur oder ein Gleichnis, wodurch Gott irgendwie vorgestellt wurde. Und zwar gehört dies zur Natur eines hohen Grades der Prophetie, wenn Gott selber sprechend gesehen wird, mag dies auch nur im Gesichte geschehen vermittelst solcher Formen, welche in die Einbildungskraft eingeprägt werden; wie dies unten (II. II. Kap. 174) noch weiter erörtert werden soll. Es kann jedoch Jakob diesen Ausdruck auch gebrauchen auf Grund einer hohen, rein der Vernunft angehörigen Betrachtung, die ihn erhoben hätte über die gewöhnliche menschliche Erkenntnis. II. Sowie Gott Wunder thut in den körperlichen Dingen, so hat Er über ihre Natur hinaus und ganz außergewöhnlicherweise die Seelen einiger Menschen, die noch im Fleische wandelten, aber von dem Gebrauche der Sinne entfernt waren, bis zur Anschauung seines Wesens erhoben; wie dies Augustin sagt (12. sup. Gen. ad Iltt. 26, 27, 28.) von Moses, dem Lehrer der Juden, und von Paulus, dem Lehrer der Heiden. Doch darüber eingehender später. (II. II. Kap. 175.) III. Alles in Gott erkennen und nach Ihm beurteilen, hat keine andere Bedeutung wie die, daß wir vermittelst der natürlichen Leuchte unserer Vernunft, welche eben ein von Gott, der höchsten Vernunft, uns mitgeteiltes Geschenk ist, alles erkennen und beurteilen; gleichwie wir alles Sichtbare wahrnehmen und unterscheiden in der Sonne, d. h. vermittelst des Lichtes der Sonne und gemäß demselben. Daher schreibt Augustin (I. Soliloq. 8.): „Schauspiele oder Gegenstande der Wissenschaften können nicht anders gesehen werden als wenn sie gewissermaßen durch die ihnen eigene Sonne beleuchtet werden.“ Wie also, um etwas Sichtbares zu schauen, es nicht erfordert ist, daß wir das Wesen der Sonne vorher schauen; so ist es auch, um etwas Geistiges geistig zu schauen, nicht notwendig, daß zuerst das Wesen Gottes gesehen werde. IV. Das vernünftige Schauen hat allerdings jene Dinge zum Gegenstande, welche kraft ihres Wesens in der Seele sind; aber sie müssen dann solchergestalt in der Seele sein, wie der erkannte Gegenstand oder überhaupt das Erkennbare in der Erkenntniskraft. So aber, nämlich als Gegenstand des Erkennens, ist Gott in der Seele der Seligen; nicht in unserer Seele. Da, in unserer Seele, ist Er, weil Er alles in ihr schaut, ihr das Sein und alle Vermögen giebt; also durch Gegenwart, durch sein Wesen und seine Macht, wie das früher erklärt worden.
