LXXXIV. (Mauriner-Ausgabe Nr. 300) Ohne Adresse
Inhalt: Ein Trostschreiben an den Vater eines verstorbenen studierenden Jünglings.
Da der Herr uns bestellt hat, an den Christen zweite Vaterstelle zu vertreten, und die an ihn gläubigen S. 323 Kinder zur religiösen Unterweisung uns anvertraut hat, so teilen wir das Leid, das Dich in Deinem seligen Sohne betroffen hat, und beklagen sein zu frühes Hinscheiden. Unsere Teilnahme gilt besonders Dir, da wir erwägen, wie tief der Schmerz sein muß für einen leiblichen Vater, wo doch schon wir, nur dem Gebote entsprechend ihm verwandt, seelisch so tief erschüttert wurden. Denn ob des Verstorbenen selbst dürfte weder Herz noch Mund von Traurigkeit etwas merken lassen. Aber die sind zu bedauern, deren Hoffnungen auf ihn fehlgeschlagen haben. In der Tat sind die vieler Tränen und Seufzer wert, die ihren Sohn in der Blüte der Jahre zum Studium der Wissenschaften fortschickten und ihn zurückbekamen - versunken in diesem langen und unerwünschten (Todes-)Schweigen. Ja, dieser Vorfall machte auf uns als Menschen im ersten Augenblicke einen erschütternden Eindruck: Tränen vergossen wir überreichlich, und ein fassungsloses Seufzen entrang sich unserer Brust, weil das Leid einer Wolke gleich mit einemmale unsern Geist umfing. Sobald wir aber wieder die Fassung gefunden hatten und mit dem Auge der Seele die Natur der menschlichen Dinge betrachteten, baten wir den Herrn um Verzeihung, daß unsere Seele bei diesem Vorfall alle Fassung verlor, und sprachen uns selbst zu, das gelassen zu ertragen, was laut dem alten Urteil Gottes das Los des Menschenlebens ist1.
Der Knabe schied von uns mitten im lebensfrohen Alter, hervorragend unter seinen Altersgenossen, der Liebling seiner Lehrer, befähigt, schon bei bloßer Begegnung auch den Wildesten zur Freundlichkeit zu stimmen, scharfsinnig in der Wissenschaft, sanften Charakters, für sein Alter mehr als eingezogen. Wollte man auch noch mehr sagen, man würde die Wahrheit nicht erreichen. Gleichwohl war er ein Mensch und von einem Menschen geboren. Was muß sich also der Vater eines solchen Sohnes sagen? Was anders, als daß sein eigener Sohn gestorben ist? Wie soll er sich dann wundern, daß er, der Sohn eines Sterblichen, der Vater eines Sterblichen geworden ist? Wenn er nun aber vor der S. 324 Zeit und ehe er das Leben ausgekostet und das normale Alter erreicht hatte, ehe er in der Welt bekannt geworden und ohne eine Nachkommenschaft seines Geschlechtes zu hinterlassen, gestorben ist, so bedeutet das nach meiner Überzeugung keine Vermehrung des Leides, sondern ein Trost in diesem Unglück. Man muß der göttlichen Vorsehung danken, daß sie nicht Kinder als Waisen hier auf Erden zurückließ, und daß sie nicht eine Gattin als Witwe langwährender Trauer preisgab, noch zuließ, daß sie mit einem andern Manne zusammen wohne und die früheren Kinder vernachlässige. Wenn aber das Leben des Knaben nicht für dieseWelt (länger) erhalten blieb, wer wäre so unverständig, dies nicht für der Güter höchstes anzusehen? Denn der längere Verbleib hinieden ist nur Anlaß zu mehr Bösem. Er hat nichts Böses getan, hat seinen Nebenmenschen nicht betrogen. Er kam nie in die Zwangslage, sich schlechter Gesellschaft anzuschließen, wurde nicht in gerichtliche Händel verwickelt; er wurde nie zur Sünde genötigt, zur Lüge, zur Undankbarkeit, zur Habsucht, Genußsucht und Fleischeslust, zu Lastern, die in der Regel in zügellosen Herzen entstehen. Mit keiner Makel behaftet ist seine Seele dahingegangen, sondern rein ist er hinübergegangen zu einem besseren Lose. Nicht hat die Erde den Geliebten gedeckt, sondern der Himmel hat ihn aufgenommen. Gott, der unser Geschick lenkt, der einem jeden seine Lebensgrenze bestimmt, der ihn in dieses Leben eingeführt hat, e r hat ihn auch hinweggenommen. Wir haben eine Lehre, an die wir uns bei erschütternden Unfällen halten müssen, jenes bekannte Wort des großen Job: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen; wie es dem Herrn gefallen hat, so ist es geschehen. Der Name des Herrn sei gepriesen in Ewigkeit2!”
