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„Wer gibt mir Flügel gleich einer Taube, daß ich fliege1” zu Euch und stille mein Verlangen, mit Eurer Liebe zusammenzukommen? Nun aber habe ich nicht nur keine Flügel, sondern nicht einmal einen gesunden Körper, der ja schon längst an großer Schwäche litt und jetzt unter der fortgesetzten Trübsal vollends entkräftet wurde.
Wer hätte denn ein so diamanthartes Herz, wer wäre denn so ganz gefühllos und roh, daß er bei den Klagen, die von allen Seiten an unser Ohr dringen und wie ein gemeinsamer, einhelliger Trauerchor erschallen, in seinem Herzen nicht erschüttert, zur Erde gebeugt und unter solch unsagbarem Kummer ganz vernichtet würde? Doch mächtig ist der heilige Gott, uns von dem unabwendbaren Unheil zu befreien und eine Erholung von der langen Trübsal zu gewähren. Deshalb wünsche ich, daß auch Ihr denselben Trost habet und froh ob der S. 166 Hoffnung des Trostes das augenblickliche Weh der Trübsale geduldig ertraget. Wenn wir nämlich für unsere Sünden büßen, so vermögen diese Züchtigungen uns vor dem künftigen Zorn Gottes zu bewahren. Werden wir durch diese Versuchungen zum Kampf für den Glauben aufgerufen, so ist der Schiedsrichter gerecht und läßt nicht zu, daß wir über unsere Kräfte versucht werden2, sondern gibt uns für die überstandenen Leiden den Siegeskranz der Geduld und der Hoffnung auf ihn. Wir wollen also nicht ermüden im Kampfe für unsern Glauben! Wir wollen nicht in Verzagtheit die schon getane Arbeit wegwerfen! Denn nicht eine mutvolle Tat und nicht eine kurze Mühsal beweist den Starkmut der Seele; vielmehr will der, welcher unsere Herzen prüft, daß wir durch langanhaltende Bewährung die Krone der Gerechtigkeit empfangen. Nur lasse unser Herz sich nicht erschüttern, und die Grundfeste unseres Glaubens an Christus bleibe unverrückt! Dann wird er in Bälde kommen, unser Helfer; er wird kommen und nicht zögern. „Warte nur! Eine Trübsal auf die andere, eine Hoffnung auf die andere. Noch ein wenig, noch ein wenig!” — So weiß der Hl. Geist durch die Hoffnung auf die Zukunft seine Jünger zu erfrischen. Hoffnung kommt auf Leid, und nicht lange bleibt das Erhoffte aus. Und wenn jemand sagt: „Ja, ein ganzes Menschenleben!” so ist es doch nur eine kurze Zeit im Vergleiche mit der Ewigkeit, die in der Hoffnung eingeschlossen liegt.
