72.
Allzu Verwegener, Todesmutiger ― wenn überhaupt einer so gewesen ist ―, mußt du nicht vor solchen Tatsachen erschrecken? Hast du davor keine Achtung? Viel geringere Achtung verdient die unersättliche Gier des weisen Gesetzgebers Solon, den das lydische Gold des Krösus verraten hatte1, oder die Schönheitsliebe des Sokrates; von seiner Päderastie zu sprechen schäme ich mich, obwohl man sie zu beschönigen sucht. Geringere Achtung verdient das Schmarotzertum, welches Plato in Sizilien trieb und dessentwegen er verkauft wurde, ohne daß er aber von einem seiner Schüler oder überhaupt von einem Griechen losgekauft worden wäre, oder die Freßlust des S. 114 Xenokrates2, oder die witzige Mundfertigkeit, durch welche der Faßbewohner Diogenes Fremde vor Tyrannen und gewöhnliche Brote vor Kuchen im Anschluß an ein Dichterwort ausweichen ließ3, oder die Philosophie des Epikur, nach welcher das sinnliche Vergnügen das einzige Gut ist. Groß war nach eurer Meinung Krates. Allerdings ist es eines Philosophen würdig, seinen Besitz für Schafweiden herzugeben, erinnert auch an das Verhalten unserer Philosophen. Allein in einer Rede tat er mit seiner Freiheit groß, als hätte er nicht die Weisheit, sondern vielmehr den Ruhm geliebt4. Für groß haltet ihr den, der, als bei stürmischer Seefahrt alles über Bord geworfen wurde, dem Schicksale Dank sagte, weil es ihn zum Tragen des Philosophenmantels verdemütigte5. Groß gilt euch Antisthenes, weil er, als ein ausgelassener, frecher Mensch ihm das Gesicht zerschlagen hatte, nur den Namen des Raufboldes auf seine Stirne schrieb, gleich dem Bildhauer, der den Namen der Statue einmeißelt; es sollte wohl eine recht kräftige Anklage sein. Über einen von denen, welche nicht lange vor uns gelebt haben, weißt du lobend zu berichten, daß er den ganzen Tag dagestanden sei und zur Sonne gebetet habe. Doch vielleicht hatte er gewartet, bis die Sonne (am Abend) sich der Erde nähert, um sein Gebet kurz fassen und mit Sonnenuntergang beenden zu S. 115 können. Du lobst den, der in Potidäa zur Winterszeit die ganze Nacht hindurch dagestanden sei, um angestrengt zu betrachten, ohne aber in seiner Verzückung den Frost zu spüren. Du lobst die Wißbegierde des Homer anläßlich der Frage, welche die Arkader an ihn gestellt hatten6, und des Aristoteles ausdauerndes Studium über die Strömungen des Euripus7, weil beide ihrem Eifer durch Tod erlegen seien. Du lobst den Brunnen des Kleanthes8, den „Riemen9“ des Anaxagoras, die Traurigkeit des Heraklit10.
Dies Urteil über Solon ist ungeschichtlich. Solon hatte im Gegenteil die Schätze des Krösus verschmäht. Vielleicht hatte aber Gregor an Alkmäon gedacht, über den er in De virt. 294 ff. schreibt: „Wer wird aber folgendes Benehmen des Alkmäon loben? Dieser .... erwies sich als ein Sklave der Geldgier. Denn Krösus ließ ihm u. a. zum Willkomm auch alle seine Goldschatzkammern aufmachen . . . und hieß ihn soviel von dem Goldstaub behalten, als er könne. Da füllte er sich die Busenfalten und die Wangen und belegte sich das Haar mit Goldstaub . . . und kam so wieder heraus unter dem Gelächter der Lyder.“ Vgl. Asmus „De Invektiven des Gregorius von Nazianz“ S. 338 f. ↩
Xenokrates war berühmt wegen seiner Mäßigkeit und Enthaltsamkeit. Gregor selbst preist ihn in De virt. 788 ff. als Muster weiser Mäßigung. Nach Asmus „Die Invektiven des Gregorius von Nazianz“ S. 339 ist der Name Xenokrates irrtümlich in den Text gekommen. ↩
Vgl. Gregors Schrift De virt. 275 ff.: „Sie machen ihre Armut zu einer Quelle der Üppigkeit; dies zeigen die Gerstenbrote, welche dem Kuchen ausweichen müssen, und die trefflich angewandten Worte der Tragödie: o Fremdling, mache dich vor den Tyrannen aus dem Staube! Euripides, Phön. 40).“ ↩
Krates rief aus: „Krates hat dem Krates die Freiheit geschenkt“, d. h. er hat ihn von der Knechtschaft des Geldes befreit. Vgl. unten Rede 43, 60. ↩
Gemeint ist Zeno, der Begründer der stoischen Philosophie. ↩
Als Homer einmal arkadische Fischer fragte, was sie gefangen hätten, antworteten sie: „Was wir gefangen haben, haben wir zurückgelassen; was wir aber nicht gefangen haben, tragen wir bei uns.“ Sie dachten an ihre Läuse. Da nun Homer aber das Rätsel nicht zu lösen vermochte, soll er vor Ärger gestorben sein. ↩
Vgl. Ps. Justinus, „Mahnrede an die Heiden“ Kap. 36. ↩
Er lebte in so ärmlichen Verhältnissen, daß er sich seinen Unterhalt durch Wasserschöpfen verdienen mußte, weshalb er φρεάντλης, [phreantlēs] d. i. Wasserschöpfer, genannt wurde. ↩
War der Titel eines Buches von Anaxagoras. ↩
Soll, sooft er sein Haus verließ, über das Elend der Menschen geweint haben. ↩
