1.
ÜBER DIE WELTSCHÖPFUNG NACH MOSES
Manche Gesetzgeber haben das, was ihnen als recht galt, in ungeschminkter und einfacher Form angeordnet; andere haben ihre Gedanken in ein schwülstiges Gewand gekleidet und die Volksmassen betört, indem sie mit mythischen Gebilden die Wahrheit verhüllten. Moses aber hat beides vermieden, das eine, weil es unbedacht, bequem und unphilosophisch ist, das andere, weil es voll Lug und Trug ist; er hat vielmehr seinen Gesetzen einen sehr schönen und erhabenen Anfang gegeben, indem er weder ohne weiteres angab, was zu tun oder zu unterlassen sei, noch auch — obwohl es nötig gewesen wäre, erst den Geist derer, die sich der Gesetze bedienen sollten, vorzubereiten — Mythen erdichtete oder die von andern verfassten nacherzählte. Dieser Anfang ist, wie ich sagte, höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetze als auch das Gesetz mit der Welt im Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird (Philo sieht in dem Umstande, dass die Thora mit der Weltschöpfung beginnt, eine Übereinstimmung mit der Lehre der Stoiker, nach der die wahre Sittlichkeit darin besteht, dass man der Natur folgt und nach der Natur lebt (ομολογουμένως τη φύσει ζην, secundum naturam vivere). Die Mosaische Gesetzgebung lehrt die wahre Sittlichkeit; also stehen Gesetz und Welt (Natur) im Einklang mit einander, und der nach dem Gesetz lebende Mensch ist zugleich der wahre Weltbürger (kοσμοπολίτης), da er sich nach demselben Willen der Natur richtet, von dem die Welt beherrscht ist. Eine ähnliche Verknüpfung liegt in der Bemerkung des Midrasch Tanchuma zu 1 Mos. 1,1, dass die Welt auf der Thora gegründet ist, und des Talmud Nedarim f. 32a, dass Himmel und Erde nicht ohne die Thora bestehen. Vgl. auch Bereschl. R. zu Anfang: „im Hinblick auf die Thora schuf Gott die Welt"). Die Schönheit der Gedanken dieser Weltschöpfung vermöchte kein Dichter und kein Schriftsteller würdig zu preisen; denn sie gehen über das Sprach- und Gehörvermögen hinaus und sind zu gross und zu erhaben, als dass sie mit den Organen eines Sterblichen erfasst werden könnten. Allein deswegen dürfen wir uns nicht schweigend verhalten; wir müssen vielmehr aus Liebe zu Gott selbst über unsere Kraft hinaus sie zu schildern wagen, indem wir zwar eigentlich nichts, statt des Vielen aber doch einiges vorbringen, soweit der von Verlangen und Sehnsucht nach Weisheit beherrschte menschliche Geist vorzudringen vermag. Denn wie auch das kleinste Siegel, wenn es geprägt wird, die Abbilder kolossaler Grössen aufnimmt, so werden vielleicht auch die ausserordentlichen Schönheiten der in den Gesetzen beschriebenen Weltschöpfung, wenn sie mit ihren Strahlen die Seelen der Leser treffen, auch bei schwächerer Darstellung offenbar werden; es muss jedoch zuvor noch etwas erwähnt werden, was nicht verschwiegen werden darf.
