2.
[Forts. v. S. 281 ] Deshalb sollen sie diese dialektischen Fragen beiseite lassen und die Wahrheit nicht mit Arglist, sondern mit Ehrfurcht suchen. Es ist uns das Kriterium des Verstandes zur Erkenntnis der Wahrheit gegeben worden. Die Wahrheit selbst aber ist unser Gott. Deshalb ist es Hauptaufgabe unseres Verstandes, unsern Gott zu erkennen, und zwar so zu erkennen, wie die unendliche Majestät vom Kleinsten erkannt werden kann. Es kommt ja auch nicht deshalb, weil die Augen zum Anschauen der sichtbaren Dinge bestimmt sind, schon alles Sichtbare zur Anschauung. So wird ja die Halbkugel des Himmels auch nicht mit einem Blick überschaut, vielmehr umgibt sie uns zwar in ihrer sichtbaren Gestalt, aber in Wahrheit ist vieles, um nicht zu sagen alles an ihr unbekannt: Die Natur der Sterne, ihre Größe, ihre Entfernungen, ihre Bewegungen, ihr Zusammentreffen, ihr Abstand, die anderen Stellungen, selbst das Wesen des Firmaments, die Tiefe von der konkaven Peripherie bis zur konvexen Oberfläche. Aber gleichwohl möchten wir nicht sagen, der Himmel sei unsichtbar, weil uns diese Dinge unbekannt sind, vielmehr nennen wir ihn sichtbar, weil wir ihn wenigstens einigermaßen kennen. So liegt es auch in der Frage nach Gott. Ist der Verstand von den Dämonen zerrüttet, so wird er Götzendienst treiben oder zu irgendeiner andern Form von Gottlosigkeit sich verleiten lassen. Überläßt er sich aber dem Beistande des Geistes, so wird er die Wahrheit einsehen und Gott erkennen. Er wird ihn aber, wie der Apostel sagt, nur teilweise erkennen, im andern Leben aber vollkommener. „Wenn das Vollkommene kommt, wird das Stückwerk abgetan werden1. Demnach ist die Urteilskraft des Verstandes etwas Gutes und zu einem vortrefflichen Zweck gegeben, nämlich zur Erkenntnis Gottes, freilich hierin nur soweit tätig, als ihr gestattet ist.
1 Kor. 13, 10. ↩
