4.
Die Genüsse flieh, nach Mäßigkeit strebe! Deinen Körper trainiere durch Arbeit; Deine Seele gewöhne an Versuchungen! In der Überzeugung, daß die Trennung von Leib und Seele eine Erlösung aus allem Übel sei, harre auf den Genuß der ewigen Güter, der allen Heiligen zuteil geworden ist. Du aber steh’ unermüdlich an der Wage, gegen die teuflische Einflüsterung lege einen frommen Gedanken ein, und richte Dich gleichsam nach dem Zünglein an der Wage! Besonders halte es so, wenn die versucherischen Gedanken kommen: Was nützt es Dir, an diesem Orte zu leben? Welcher Gewinn erwächst Dir aus der Absonderung von der menschlichen Gesellschaft? Oder weißt Du nicht, daß die von Gott zu Bischöfen über die Kirchen Gottes Bestellten wie üblich mit den Männern zusammenkommen und immer wieder geistige Konferenzen halten und die Teilnehmer daran sehr großen Gewinn haben? Denn dort hört man Erläuterungen dunkler Sprüche, Erklärungen apostolischer Lehren, eine Auslegung von Stellen im Evangelium; man hört von Theologie und von Zusammenkünften geistlicher Brüder, durch deren Äußeres schon die Beteiligten eine große Bereicherung erfahren. Du aber hast so großer Güter Dich entschlagen und sitzest da verwildert gleich den Bestien. Hier hast Du eine große Wüstenei vor Dir, eine minimale Bevölkerungsziffer, keine Belehrung, keine Gemeinschaft mit Brüdern und einen gegen Gottes Gebote sehr trägen Geist. Wenn also diese schlimme Vorstellung mit so vielen und verschiedenen wohlklingenden Scheingründen Dich zu Falle bringen will, so halt ihr in frommer Erwägung die praktische Erfahrung gegenüber und sprich: Du sagst mir, die Dinge in der Welt seien gut; eben deshalb bin ich hieher übergesiedelt, da ich mich der Güter der Welt für unwürdig hielt. Mit den Gütern der Welt sind Übel vermischt, und die Übel wiegen bei weitem vor. Ich besuchte ja einst die geistlichen Konferenzen, konnte aber kaum auch nur einen Bruder ausfindig machen, der wirklich S. 87 gottesfürchtig schien, wohl aber einen, der vom Teufel beherrscht war, und ich hörte aus seinem Munde großsprecherische Reden und Fabeln, die zur Täuschung der Anwesenden erfunden waren. Nach diesem traf ich viele Diebe, Räuber und Tyrannen. Ich sah auch das schamlose Treiben von Betrunkenen, das Blut der Unterdrückten1. Ich sah auch die Schönheit der Weiber, die meine Keuschheit gefährdete. Ich entging zwar einer Tatsünde der Unzucht, aber befleckte doch meine Jungfräulichkeit durch innere Gedanken. Wohl hörte ich auch viele seelsorgerliche Reden, fand aber bei keinem Lehrer die seinen Worten entsprechende Tugend. Sodann hörte ich auch tausend Trauerspiele voll weichlicher Melodien. Dann hörte ich den lieblichen Ton der Zither, den Lärm der Tänzer, die Stimme der Possenreißer, vielerlei Torheit und Witzelei und das Lärmen des zahllosen Haufens. Ich sah die Tränen der Beraubten, den Jammer derer, die von der Tyrannei weggeschleppt wurden, hörte das Wehklagen der Gefolterten. Ich sah es doch mit an, und siehe: das war keine geistliche Versammlung, sondern ein vom Winde gepeitschtes, tobendes Meer, das alle zumal in seinen Fluten zu begraben drohte. So sag mir, böser Gedanke und Dämon augenblicklicher Lust und der Ruhmsucht, was es mich nützt, solche Dinge zu sehen und zu hören, wenn ich keinem der Mißhandelten zu helfen vermag, und es mir verwehrt ist, die Ohnmächtigen in Schutz zu nehmen wie die Irrenden zurechtzuweisen, ja wo ich mich vielleicht selbst ins Verderben stürze? Denn wie ein Tropfen reines Wasser von einem mächtigen Sturmwind oder Staubwirbel verweht wird, so werden auch unsere vermeintlichen Verdienste im Leben von der Menge der Schlechtigkeiten verhüllt. Die Tragödien werden wie Pfähle denen, die draußen im Leben stehen, unter Lust und Scherz in ihre Herzen getrieben und trüben so die Reinheit des Psalmengesanges. Und das Seufzen und Weheklagen der ungerecht behandelten Menschen wird von ihren Volksgenossen vorgeführt, um die Geduld der Armen darzustellen.
Diese Schilderung soll nach einer Fußnote des Herausgebers Maran besonders auf palästinensische Verhältnisse des vierten Jahrhunderts Bezug haben. ↩
