1.
Was glaubst Du von mir, wie sehr ich es schätzen würde, wenn wir einmal miteinander zusammenkommen könnten und ich längere Zeit bei Dir sein dürfte, um von all dem Guten, das in Dir ist, zu gewinnen? Wenn es zum Erweis von Bildung bedeutsam ist, vieler Menschen Städte gesehen und deren Gebräuche kennen gelernt zu haben1, so wird diesen Vorteil, glaube ich, in kurzer Zeit der Umgang mit Dir gewähren. Denn was ist für ein Unterschied, ob man viele einzeln sieht oder einen, der eine Erfahrung gleich der aller zusammen aufzuweisen hat? Ja, ich möchte eher behaupten, bei weitem den Vorzug verdient, was die Erkenntnis des Guten mühelos verschafft und zur Kenntnis der Tugend führt ohne die Berührung mit dem Bösen. Ob eine treffliche Handlung, ob eine denkwürdige Rede, ob öffentliche Maßnahmen überragender Männer — alles ist in der Schatzkammer Deiner Seele geborgen. Deshalb wünschte ich nicht bloß auf ein Jahr, wie Alkinoos den Odysseus, sondern mein ganzes Leben lang Dich zu hören und eben um deswillen eines langen Lebens mich zu erfreuen, so herb ich es auch finde. Doch was schreibe ich denn, wo ich jetzt bei Dir weilen sollte? Weil mein bedrängtes Vaterland mich an sich fesselt. Was es leidet, ist Dir, Bester, nicht unbekannt. Wahrlich, wie den Pentheus die Mänaden zerrissen2, so machen es dem Vaterlande gewisse böse Geister. Sie teilen und teilen es wieder und machen wie schlechte Ärzte schuld ihrer S. 126 Unerfahrenheit die Wunden nur noch ärger. Da es nun zerstückelt darniederliegt, so bleibt nur übrig, es von seiner Krankheit zu heilen. Nun wandten sich die Bürger in dringlichem Schreiben an uns, und wir mußten (ihnen) entgegenkommen, nicht als ob wir in der Angelegenheit helfen könnten, sondern um dem Vorwurf der Interesselosigkeit zu entgehen. Du weißt ja, daß Bedrängte ebensowohl zum Hoffen geneigt sind wie zum Tadeln und die Schuld immer auf ein Versäumnis schieben.
Vgl. Odyssee I 1. 2 und Horaz, De arte Poetica 142: „Qui mores hominum multorum vidit et urbes.” ↩
Pentheus, Sohn des Echion und der Agave, König in Theben, der zur Strafe für sein Widerstreben gegen den Dionysosdienst von der eigenen Mutter und deren Schwestern in bacchantischer Wut zerrissen wurde. ↩
