Nr. 30
Allein was sollen die in der Unterwelt erwähnten Strafen und mannigfaltigen Arten der Peinigungen? Wer wird wohl so unverständig seyn und unkundig der Folgerung, zu glauben, den unverwüstlichen Seelen könnten entweder die tartarische Finsterniß oder die Feuerflüsse, oder die durch morastige Schlünde hingelegenen Sümpfe oder der Umschwung sich drehender Räder irgend Etwas schaden? Was nämlich untastbar und dem Gesetz der Auflösung entnommen ist, mag es auch von allen Flammen der Feuerströme S. 72 umlodert, im Moraste umhergewälzt, durch den Sturz von Felsen bedroht und von ungeheuern Bergen verschüttet werden, nothwendig verbleibt es unversehrt wie unberührt, und nimmt keine Empfindung tödtlichen Leidens an. Ja, noch mehr; diese Meinung ist nicht nur die Anreizerin zu den Lastern, mittelst der Freiheit selbst zu sündigen, sondern sie tilgt auch die Ursache der Philosophie selbst und erklärt, dieselbe werde vergeblich wegen der Beschwerlichkeit überflüssiger Bemühung unternommen: denn wenn wahr ist, daß die Seelen keines Endes theilhaftig sind, und mit allen Geschlechtern der Menschenalter in ununterbrochener Fortdauer fortgehen; welche Gefahr bringt der Umstand, mit Geringschätzung und Unterlassung der Tugenden, welchen ein beschränkteres und rauheres Leben zukommt, den Wollüsten sich hinzugeben, und durch alle Arten der Begierden die zügellose Brunst maßloser Gier hinzutreiben? Außer daß man durch die Ueppigkeit hinwelkt und durch die Weichlichkeit der Laster verdirbt. Und aus welcher Ursache wird, was unsterblich, was immer und keinem Leiden unterworfen ist, verderben können? Außer daß es sich beschmutzt und verunreinigt durch schändlicher Thaten Schimpf. Und wie wird, was keine körperliche Substanz hat, sich beschmutzen können, und wo soll das Verderben sich festsetzen, da der Raum ermangelt, auf dem das Mahl des Verderbens selbst haften könnte? Dagegen aber, wenn die Seelen dem Thore des Todes zugänglich sind, wie des Epikurs Lehre erklärt (Lukretius von der Natur der Dinge III, 418 bis 840 [sic]), so ist auch dergestalt kein triftiger Grund, weshalb die Philosophie verlangt werden müßte; auch wenn wahr ist, daß mittelst derselben die Seelen gereinigt und von aller Lasterhaftigkeit gesäubert erhalten werden (Platon's Phaeton S. 64 flg. Stephan): denn gehen sie insgesammt zu Grunde, und geht ihnen mit den Körpern selbst die Lebenskraft verloren, dann ist der Irrthum nicht sehr groß, ja es ist thörichte Verblendung, die angeborenen Begierden zu zügeln, das Leben durch Entsagungen einzuschränken, der Natur Nichts zu gestatten, was die Leidenschaften fordern, und wozu sie anreizen nicht zu thun: da für solche Anstrengung kein Lohn sich erwartet, wenn der Tag des Todes herankommen und dich der körperlichen Bande entfesseln wird.
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