47. Frage.
Soll man Sündern gegenüber schweigen?
Antwort. Daß man Dieß nicht darf, erhellet aus den Geboten des Herrn, der im alten Testamente sagt: „Du sollst deinen Nächsten offenherzig warnen, damit du S. 210 seinetwegen keine Sünde auf dich ladest;“1 im Evangelium aber: „Hat dein Bruder wider dich gesündigt, so geh’ hin und verweise es ihm zwischen dir und ihm allein! Gibt er dir Gehör, so hast du deinen Bruder gewonnen. Gibt er dir aber kein Gehör, so nimm noch Einen oder Zwei zu dir, damit die ganze Sache auf dem Munde zweier oder dreier Zeugen beruhe. Hört er auch diese nicht, so sage es der Kirche; wenn er aber auch der Kirche nicht hört, so sei er dir wie ein Heide und öffentlicher Sünder.“2 Welch ein Gericht aber auf dieser Sünde haftet, kann man gewiß aus dem Ausspruche des Herrn ersehen, der ganz allgemein also sagt: „Wer dem Sohne nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes wird bleiben über ihm;“3 ferner auch aus den Geschichten, welche sowohl im alten als im neuen Testamente erzählt werden. Denn siehe, da Achar eine goldene Spange und ein feines Gewand gestohlen hatte, kam der Zorn Gottes über das ganze Volk, obgleich es weder den Sünder noch die Sünde kannte, bis der oben Erwähnte entdeckt wurde und mit all’ den Seinigen jenes schreckliche Ende fand.4 Heli aber, obgleich er nicht stillschwieg zu den Schändlichkeiten seiner Söhne, sondern sie oft warnte und sagte: „Nicht doch, meine Kinder, ich höre nichts Gutes von euch,“ und ihnen in längerer Rede die Thorheit der Sünde und die Unvermeidlichkeit des Gerichts vorhielt, erregte dennoch, weil er sie nicht voll und ganz bestrafte und nicht, wie er hätte müssen, gegen sie eiferte, so sehr den Zorn Gottes, daß selbst das Volk mit seinen Söhnen vernichtet und selbst die Bundeslade von den Fremden geraubt wurde und auch er eines erbärmlichen Todes starb.5 Wenn nun gegen Diejenigen, welche nicht einmal Den, der die Sünde beging, kannten und sie nicht allein zu verhindern suchten, sondern auch wider sie zeugten, so sehr der Zorn Gottes S. 211 entbrannte, was soll man dann von Solchen sagen, welche um sie wissen und dazu stillschweigen? Thun Diese nicht nach Dem, was der Apostel zu den Korinthern gesagt hat: „Warum habt ihr nicht mehr getrauert, damit aus eurer Mitte geschieden werde, welcher diese That begangen hat?“6 was ihnen ferner von demselben bezeugt wurde, indem er schrieb: „Denn siehe, eben Dieses, daß ihr in Gott wohlgefällige Traurigkeit versetzt wurdet, welch eine Sorgfalt hat es bei euch bewirkt; aber auch welche Abwehr, welchen Unwillen, welche Furcht, welche Sehnsucht, welchen Eifer, welche Bestrafung! In Allem habt ihr bewiesen, daß ihr unschuldig seid in dieser Sache;“7 so laufen auch jetzt überhaupt zugleich Alle Gefahr, in dasselbe Verderben zu gerathen oder gar in ein schlimmeres, und zwar um so viel der Verräther Gottes schlimmer ist als Der, welcher das Gesetz des Moses verachtet, sowie Der, welcher Dasselbe wagte, was Derjenige, welcher ihm in der Sünde sowohl wie in der Strafe voranging. „Denn Kain wurde siebenmal gerächt, Lamech aber, der die gleiche Sünde beging, siebenzigmal siebenmal.“8
