64. Frage.
Unser Herr Jesus Christus sagt: „Ihm wäre es besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in das Meer geworfen würde, als daß er eines dieser Kleinen ärgert;“1 was heißt Ärgerniß geben, oder wie hüten wir uns vor diesem schrecklichen Urtheile?
Antwort. Ärgerniß gibt, wer in Wort oder That das Gesetz übertritt und einen Anderen zur Übertretung verleitet, wie die Schlange die Eva und Eva den Adam, oder wer verhindert, daß der Wille Gottes geschieht, wie Petrus den Herrn, als er sagte: „Das sei fern von dir, Herr, das S. 220 wird dir nicht geschehen;“ und als er hörte: „Hinweg von mir, Satan, du bist mir zum Ärgerniß, denn du denkst nicht auf Das, was Gottes ist, sondern auf Das, was der Menschen ist;“2 oder wenn er den Sinn des Schwachen zu etwas Verbotenem aufmuntert, wie von dem Apostel geschrieben ist in folgenden Worten: „Denn sieht Jemand dich, der du die Erkenntniß hast, im Götzentempel speisen, wird nicht sein Gewissen, da er schwach ist, aufgemuntert, Götzenopfer zu essen?“ Und dann fügt er noch hinzu: „Darum, wenn eine Speise meinen Bruder ärgert, will ich kein Fleisch essen in Ewigkeit, damit ich meinen Bruder nicht ärgere.“3 Das Ärgerniß entsteht aber aus mehreren Ursachen. Denn entweder entsteht es durch Den, der es gibt, oder durch Den, der es nimmt. Und bei diesen tritt es wieder in verschiedener Weise ein, manchmal aus Bosheit, manchmal auch aus Unwissenheit des Einen oder Anderen. Geschieht es, daß Einige Ärgerniß nehmen an rechten Worten und dergleichen Thaten, so ist Das eine offenbare Bosheit. So, wenn Jemand Ärgerniß daran nimmt, daß Einer ein Gebot Gottes erfüllt oder ohne Scheu von Dem Gebrauch macht, was in seiner Macht steht. Nehmen daher Menschen an Dem, was dem Gebote Gottes gemäß gethan oder gesprochen wird, Anstoß und ärgern sich daran, wie im Evangelium Einige an Dem, was von dem Herrn nach dem Willen des Vaters gethan und gesprochen wurde, sich ärgerten, so müssen wir an den Herrn denken, welcher, da die Jünger zu ihm kamen und sagten: „Weißt du, daß die Pharisäer, als sie die Rede hörten, sich ärgerten?“ bezüglich solcher Menschen ihnen antwortete: „Eine jede Pflanzung, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden. Lasset sie, sie sind blind und Führer von Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, so fallen Beide in die Grube.“4 Und Vieles dergleichen S. 221 kann man finden in den Evangelien und bei dem Apostel. Nimmt aber Jemand an Dem, was uns zusteht, Anstoß oder ärgert sich daran, dann müssen wir uns an die Worte, die der Herr zu Petrus sprach, erinnern, indem er sagte: „Also sind doch die Kinder frei; damit wir sie aber nicht ärgern, so gehe hin ans Meer, wirf die Angel aus und nimm den Fisch, der zuerst heraufkommt, und wenn du seinen Mund öffnest, so wirst du einen Stater finden, den nimm und gib ihn für mich und dich!“5 und an das Schreiben des Apostels an die Korinther, worin er sagt: „Ich will kein Fleisch essen in Ewigkeit, damit ich meinen Bruder nicht ärgere,“6 und wiederum: „Besser ist es, kein Fleisch zu essen und keinen Wein zu trinken oder Etwas zu thun, woran dein Bruder Anstoß nehmen oder sich ärgern oder wodurch er schwach werden könnte.“7 Wie schrecklich es aber ist, in Dem, was uns zuzustehen scheint, auf den daran Ärgerniß nehmenden Bruder keine Rücksicht zu nehmen, zeigt die Vorschrift des Herrn, der überhaupt jede Art des Ärgernisses verpönt, indem er sagt: „Sehet zu, daß ihr keines von diesen Kleinen verachtet; denn ich sage euch, ihre Engel im Himmel schauen beständig das Angesicht meines Vaters, der im Himmel ist.“8 Dasselbe bezeugt auch der Apostel, indem er einmal sagt: „Sondern darauf sehet vielmehr, daß ihr dem Bruder nicht Anstoß oder Ärgerniß gebet;“9 bald aber mit wahren und stärkeren Wort das Vergehen verbietet, indem er sagt: „Denn wenn Jemand dich, der du Kenntniß hast, im Götzentempel speisen sieht, wird nicht sein Gewissen, weil er schwach ist, gereizt werden, Götzenopfer zu essen ? Und es wird durch deine Kenntniß der Bruder verloren gehen, für den Christus gestorben ist.“ Diesem fügt er hinzu: „Indem ihr euch so an den Brüdern versündigt und ihr schwaches Gewissen verletzet, versündigt ihr euch an Christus. Darum will ich, S. 222 wenn eine Speise meinen Bruder ärgert, kein Fleisch essen in Ewigkeit, damit mein Bruder sich nicht ärgere.“10 Und nachdem er an einer anderen Stelle gesagt hat: „Oder habe ich und Barnabas allein nicht die Vollmacht, Dieß zu thun?“ fährt er fort: „Aber wir haben uns dieser Vollmacht nicht bedient, sondern wir ertragen Alles, um dem Evangelium Christi kein Hinderniß zu bereiten.“11 Wenn es nun, wie gezeigt worden, so schrecklich ist, den Bruder durch Das, was uns zusteht, zu ärgern, was soll man dann von Jenen sagen, welche durch verbotene Werke oder Worte Ärgerniß geben? Zumal, wenn Der, welcher Ärgerniß gibt, eine größere Kenntniß zu haben scheint oder ein priesterliches Amt bekleidet, wenn Der, welcher für die Anderen gleichsam Regel und Beispiel sein soll, entweder das Geringste von Dem, was geschrieben steht, vernachläßigt oder etwas Verbotenes thut oder etwas Gebotenes unterläßt oder überhaupt zu Etwas dergleichen stillschweigt, sich schon durch Dieses allein ein so strenges Gericht zuzieht, daß das Blut des Sünders, wie es heißt, von seinen Händen gefordert wird.12
