4.
Was will ich nun sagen, meine Brüder? Nicht, daß ich fehlerlos sei, nicht, daß mein Leben nicht voll von tausend Schwächen. Ich kenne mich doch selbst und höre nicht auf, über meine Sünden zu weinen (in Sorge), ob ich wohl noch meinen Gott versöhnen und der angedrohten Strafe entrinnen kann. Aber ich sage: Wer unser Verhalten richtet, soll die Splitter in unserem Auge suchen, wenn er selbst ein staubfreies Auge zu haben versichert. Wir geben ja zu, daß wir einer großen Sorgfalt seitens der Gesunden bedürfen. Kann einer aber das nicht behaupten — und es wird einer umso mehr vor dieser Behauptung sich hüten, je reiner er ist; es ist doch Art der Vollkommenen, sich nicht zu erheben, ansonst sie jedenfalls der Prahlerei des Pharisäers sich schuldig machen würden, der sich selbst gerecht nannte und den Zöllner verdammte1 —, so suche er mit S. 224 mir den Arzt und „richte nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der das im Finstern Verborgene ans Licht bringen und die Absichten des Herzens offenbar machen wird2”. Er denke aber auch an den, der sagte: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet3”, und „Verdammt nicht, damit ihr nicht verdammt werdet4!” Überhaupt, meine Brüder, wenn unsere Gebrechen noch heilbar sind, warum gehorcht er5 nicht dem Lehrer der Kirchen, der sagt: „Überweise, rüge, mahne 6!” Wenn aber unsere Gottlosigkeit unheilbar ist, warum widersteht er uns nicht ins Gesicht7, warum macht er unsere Verbrechen nicht bekannt und bewahrt so die Kirchen vor einer Schädigung durch uns? Duldet also die Verleumdung nicht, die unter den Zähnen gegen uns gemurmelt wird! Das könnte wohl eine Magd in der Mühle tun, oder es würde sich mit Vorzug eignen einer der Pflastertreter, die für jede Lästerung eine besonders scharfe Zunge haben. Aber es gibt ja Bischöfe; man rufe sie zum Verhör! Es gibt einen Klerus in jedem Sprengel Gottes; man lasse die Tüchtigsten zusammen kommen! Ein jeder, der Lust hat, rede mit Freimut, auf daß es zu einer Klarstellung des Tatbestandes komme, aber nicht zu einer Schmähung! Ans Licht soll kommen das Dunkel meiner Schlechtigkeit! Doch soll man auch da nicht hassen, sondern mich zurechtweisen wie einen Bruder. Wir verdienen doch eher das Mitleid der seligen und sündelosen Männer, als deren Unwillen.
