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Liegt aber ein Glaubensirrtum vor, so zeige man uns die(se) Schrift! Es soll auch hier ein gerechtes und unparteiisches Gericht konstituiert werden. Man lese die Anklage vor! Man untersuche, ob nicht vielleicht die Anklage mehr auf der Unwissenheit des Klägers beruht, oder ob wirklich die Schrift verurteilt gehört. Viel Gutes scheint ja in den Augen derer nicht gut S. 225 zu sein, die kein scharfes kritisches Urteil haben. Es scheinen ja auch gleichschwere Lasten nicht gleichmäßig zu sein, sobald die Wagschalen unter sich nicht das gleiche Gewicht haben. Schon der Honig dünkte manchem bitter, dessen Geschmacksinn von einem Leiden verderbt worden. Sieht doch auch das kranke Auge vieles nicht, was wirklich ist, flunkert aber vieles vor, was in Wirklichkeit nicht ist. Und nun sehe ich oft denselben Fall eintreten bei der Bewertung der Texte, wenn nämlich der Kritiker nicht auf dem Niveau des Schriftstellers steht. Es muß doch ein Kritiker fast mit derselben Vorbereitung an den Text herangehen wie dessen Autor. So kann doch einer Arbeiten über den Landbau nicht beurteilen, wenn er nicht selbst Landwirt ist. Und wer sich nicht auf die Musik versteht, wird über disharmonische und harmonische Töne in der Musik nicht urteilen. Textkritiker aber soll der nächste Beste sein können, wenn er auch niemand als seinen Lehrer angeben kann, noch eine Zeit, in der er gelernt hat, noch überhaupt mehr oder weniger von der Wissenschaft versteht. Ich aber sehe, daß auch bei den Aussprüchen des Geistes nicht jedem erlaubt ist, sich an eine Prüfung der Worte heranzumachen, sondern nur dem, der den Geist der Unterscheidung hat. So hat uns ja der Apostel belehrt, wenn er bei der Verteilung der Gaben sagte: „Dem einen wird durch den Geist das Wort der Weisheit verliehen, dem andern die Rede der Wissenschaft nach demselben Geist, dem Dritten Glauben in demselben Geiste, einem andern die Gabe, Wunder zu wirken, diesem die Prophetengabe, jenem die Unterscheidung der Geister1. Wenn nun unsere Sache geistiger Natur ist, so zeige der, der sie beurteilen will, daß er die Gabe der Unterscheidung der geistigen Dinge hat. Ist aber unsere Sache, wie er schmäht, von der Weisheit dieser Welt, so zeige er sich erfahren in der Weisheit der Welt; dann wollen wir ihm eine Stimme beim Gerichte zuerkennen. Glaube aber ja niemand, daß dies von uns erdacht worden, um dem Gerichtsverfahren zu entgehen. Ich überlasse es ja Euch, geliebteste S. 226 Brüder, die Untersuchung der Anklagen gegen uns bei Euch vorzunehmen. Seid Ihr denn so schwerfällig, daß Ihr aller Gehilfen bedürft, um die Wahrheit zu finden? Kommt Euch aber unsere Sache unwiderleglich vor, so wirkt auf die Spötter ein, von jeder Zanksucht abzulassen! Erscheint aber irgend etwas zweifelhaft, so wendet Euch an uns durch gewisse Mittelspersonen, die imstande sind, unsere Sache gewissenhaft zu behandeln. Oder fordert von uns, wenn es Euch gut dünkt, auch schriftliche Urkunden! Jedenfalls seid auf alle Weise bedacht, diese Angelegenheit nicht ununtersucht zu lassen!
1 Kor. 12, 8—10. ↩
