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Schon für viele war Gegenstand der Untersuchung die Stelle im Evangelium, unser Herr Jesus Christus wisse den Tag und die Stunde des Endes nicht1. Besonders wird sie immer wieder von den Anomöern vorgehalten, um die Herrlichkeit des Eingebornen zu beseitigen und zum Erweis der Ungleichheit seiner Wesenheit und seiner inferioren Würde. Denn derjenige, der nicht alles weiß, könne weder eben dieselbe Natur haben noch in einer und derselben Gleichheit gedacht werden wie der, welcher vermöge seiner Kraft, die Zukunft vorauszuwissen und vorauszusehen, die Kenntnis aller Dinge besitzt. Diese Frage ist jetzt von Deiner Einsicht uns neu vorgelegt worden. Was wir also von Kindheit an von den Vätern gehört und aus Liebe zum Guten ohne langes Grübeln angenommen haben, das haben wir zu sagen. Es werden freilich unsere Worte die Ausgelassenheit der Christusgegner nicht brechen — welche Rede könnte denn wohl über ihr Ungestüm obsiegen? —; aber sie werden denen, die den Herrn lieben und ihre aus dem Glauben geschöpfte Anschauung höher werten als dialektische Beweisführung, vielleicht doch die nötige Gewißheit geben.
S. 289 Das Wort „niemand” scheint ein allgemeiner Ausdruck zu sein, so daß durch ihn auch nicht eine Person ausgenommen wird. Aber so wird es in der Schrift nicht gebraucht, wie wir zur Stelle: „Niemand ist gut, als Gott allein2” vermerkt haben. Das sagt der Sohn, stellt sich aber damit doch nicht außerhalb der Natur des Guten. Vielmehr meinen wir, da der Vater das erste Gut ist, ist „niemand” im Sinne von „zuerst” gebraucht worden. Ebenso verhält es sich bei der Stelle: „Niemand kennt den Sohn, als der Vater3.” Hier wirft er doch dem Geiste nicht Unwissenheit vor, sondern bezeugt, daß der Vater zuerst die Kenntnis seiner Natur besitze. Ebenso glauben wir, daß die Worte „niemand weiß” gewählt worden sind, um die erste Kenntnis der Dinge, der gegenwärtigen wie der zukünftigen, auf den Vater zurückzuführen und in allem den Menschen die erste Ursache zu zeigen. Wie möchte sonst diese Stelle mit den übrigen Zeugnissen der Schrift übereinstimmen oder mit unsern allgemeinen Vorstellungen harmonieren, die wir doch glauben, daß der Eingeborne das Bild des unsichtbaren Gottes ist, aber nicht ein Ebenbild persönlicher Gestalt, sondern ein Bild der Gottheit selbst und der erhabenen Eigenschaften, die in der Wesenheit Gottes gedacht werden: ein Ebenbild der Macht, der Weisheit, wie denn ja Christus „Gottes Macht und Weisheit4“ genannt wird. Ein Teil der Weisheit ist selbstverständlich die Kenntnis, die er nicht ganz in sich darstellt, wenn anders ihr etwas abgeht. Wie aber soll der Vater demjenigen, durch den er die Zeiten geschaffen, den Minimalteil der Zeiten, jenen Tag und jene Stunde, nicht kundgetan haben? Oder wie soll dem Schöpfer aller Dinge die Kenntnis vom kleinsten Teil seiner Schöpfung fehlen? Wie soll sodann der, welcher sagt, daß am Ende der Welt diese und jene Zeichen am Himmel und auf Erden geschehen werden, das Ende selbst nicht wissen? Denn wo er sagt: „Es ist noch nicht das Ende5”, redet er nicht, als ob er zweifelte, sondern S. 290 drückt sich bestimmt aus wie ein Eingeweihter. Zudem redet der Herr mit den Menschen, wie dem wohlmeinenden Forscher ersichtlich, oft von seiner menschlichen Seite, wenn er z. B. sagt: „Gib mir zu trinken6!” Es ist das ein Wunsch des Herrn nach Befriedigung des leiblichen Bedürfnisses. Der Bittsteller war kein seelenloses Fleisch, sondern eine Gottheit, die beseeltes Fleisch angenommen hatte. So wird auch hier derjenige, welcher diese Unwissenheit auf den bezieht, der aus Gründen der Heilsökonomie alles auf sich genommen hat und vor Gott und den Menschen an Weisheit zunahm, gegen die frommgläubige Anschauung nicht verstoßen.
