3.
Wer würde darob nicht trauern und rufen: „Wie ist zur Hure geworden die treue Stadt Sion1?” Wie S. 97 sollte nicht der Herr selbst einen von denen, die noch im Geiste des Jeremias wandeln, anreden: „Hast du gesehen, was mir die Jungfrau Israels angetan hat2?” Ich habe sie mit mir verlobt in Treue und Lauterkeit, in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Erbarmung3 — wie ich durch den Propheten Oseas ihr verheißen habe. Sie aber hat Fremde geliebt, und steht, da ich, ihr Mann, noch lebe, als Ehebrecherin da, und sie scheut sich nicht, einem andern Manne anzugehören. Was sagt ferner der Brautführer, der göttliche und selige Paulus, was jener aus grauer Vorzeit wie dieser neue, der Dir Mittler und Lehrer gewesen ist, wenn Du Dein väterlich Haus verlassen und mit dem Herrn Dich verbunden hast? Wird nicht der eine wie der andere voll Schmerz über so großes Unglück ausrufen: „Das Schreckliche, das ich fürchtete, ist über mich gekommen, und wovor ich bangte, das ist eingetroffen4.” „Denn ich habe dich einem Manne verlobt, um dich als keusche Jungfrau Christo darzustellen5.” Ich fürchtete aber immer, es möchten wohl, gleichwie die Schlange durch ihre Arglist die Eva betrog, so auch Deine Gesinnungen verderbt werden6. Daher habe ich es mit tausend Beschwörungen immer versucht, das Ungestüm der Leidenschaften zu dämpfen und mit tausend Wachen die Braut des Herrn zu beschirmen, und deshalb habe ich Dir immer das Leben der Unverheirateten geschildert, (geschildert,) „daß nur die Unverheiratete darauf bedacht ist, was des Herrn ist, daß sie nämlich an Leib und Seele heilig sei7”. Ich redete von dem Werte der Jungfräulichkeit, und wenn ich Dich einen „Tempel Gottes” nannte, so gab ich Deiner Sehnsucht, zu Jesus Dich aufzuschwingen, gleichsam Flügel. Und durch die Furcht vor dem Übel suchte ich Dich vor dem Falle zu bewahren und sprach: „Wenn jemand den Tempel Gottes entheiligt, so wird Gott ihn verderben8.” Ja, auch mit meinen Gebeten suchte ich Dich zu schirmen, damit Dir ja auf jede Weise „Leib und S. 98 Seele und Geist unverletzt und untadelig erhalten werde auf die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus9”. Doch all diese Mühe habe ich umsonst auf Dich verwendet; der Erfolg meiner süßen Bemühungen war ein bitteres Ende: Beweinen muß ich wieder die, über die ich mich hätte freuen sollen. Denn siehe, Du bist von der Schlange noch bitterer betrogen worden als Eva. Denn Dir ist nicht bloß das Herz, sondern mit ihm auch der Leib verderbt worden. Und schauderhaft ist es, was ich kaum zu sagen wage und doch nicht verschweigen kann — denn es ist in meinen Gebeinen gleichsam ein brennendes und flammendes Feuer; von allen Seiten befällt mich Erschlaffung, und ich kann es nicht ertragen, — „du hast die Glieder Christi genommen und zu Gliedern einer Hure gemacht10”. Nur dies Vergehen kennt unter allen nicht seinesgleichen; diese Frechheit ist unerhört in der Welt. „Geht doch hinüber”, heißt es, „zu den Inseln der Kethiker, und schaut euch um; sendet hin nach Kedar und gebt wohl acht, ob je dergleichen geschehen ist, ob je ein Volk seine Götter vertauscht hat, die doch wahrlich keine Götter sind11.” Die Jungfrau aber hat ihre Ehre eingetauscht, und ihre Ehre liegt jetzt in ihrer Schande. Der Himmel hat sich darob entsetzt und weithin dröhnte heftig die Erde. Es spricht auch jetzt der Herr: Ein zweifaches Übel hat diese Jungfrau fertiggebracht: Mich, den wahren, den heiligen Bräutigam heiliger Seelen, hat sie verlassen und ist entwichen zu dem gottlosen und verruchten Vernichter von Leib und Seele zugleich12. Sie ist abgefallen von Gott, ihrem Heilande, und hat ihre Glieder hingegeben in den Dienst der Unreinheit und der Ungerechtigkeit13. „Meiner aber vergaß sie und lief hinter ihrem Buhlen einher14”, von dem sie keine Hilfe zu erhoffen hat.
