4.
Aber, so sagt man, das war nicht unter dem großen Gregorius. Doch damals gab es auch keine Litaneien1, wie Ihr sie jetzt in Übung habt. Nicht im Tone des Vorwurfs sage ich Euch das; ich wünschte, Ihr alle möchtet in Tränen leben und in steter Buße. Denn auch wir tun nichts anderes als für unsere Sünden um Vergebung flehen, nur mit dem Unterschiede, daß wir nicht Euch gleich mit menschlichen Worten, sondern mit den Aussprüchen des Geistes unsern Gott zu versöhnen suchen. Welche Zeugen aber habt Ihr dafür, daß das unter dem bewundernswerten Gregorius nicht gewesen, Ihr, die Ihr doch nichts von seinen Werken bis auf die gegenwärtige Stunde beibehalten habt2? Gregor bedeckte beim Gebete das Haupt nicht. Wie hätte er das tun können? War er doch ein echter Schüler des Apostels, der sagte: „Ein jeder Mann, der bedeckten Hauptes betet oder weissagt, entehrt sein Haupt3”, und: „Der Mann soll sein Haupt nicht bedecken, weil er Gottes Ebenbild und Ehre ist4.” Jene reine und der Gemeinschaft des Hl. Geistes würdige Seele floh vor dem Schwören und beschränkte sich auf das „Ja” und „Nein” — mit Rücksicht auf das Gebot des Herrn: „Ich aber sage euch: ,Ihr sollt gar nicht schwören‛5.” S. 233 Er getraute sich nicht, seinen Bruder einen Narren zu nennen6; denn er fürchtete die Drohung des Herrn. Grimm, Zorn und Bitterkeit flossen nie aus seinem Munde; die Lästerung haßte er, weil sie nicht ins Himmelreich einläßt. Neid und Hochmut kannte seine arglose Seele nicht. Niemals hätte er dem Altare sich genaht, ohne zuvor mit seinem Bruder sich ausgesöhnt zu haben. Eine lügenhafte und arglistige, auf Verleumdung anderer abgezielte Rede verabscheute er so sehr, weil er sich sagte, daß die Lüge vom Teufel stammt und „daß der Herr alle, welche die Unwahrheit reden, verderben wird7.” Wenn nichts von dem Sündhaften in Euch ist, Ihr vielmehr von allem rein seid, so seid Ihr in der Tat Schüler des Jüngers der Gebote des Herrn. Wenn aber nicht, so seht zu, daß Ihr nicht die Mücke seihet, indem Ihr am Tone beim Psalmengesange herumtüftelt, dabei aber die größten Gebote aufhebt.
Zu diesen Worten zwang mich die Notwendigkeit einer Rechtfertigung, damit Ihr zuerst den Balken aus Euern Augen ziehen lernt und dann erst fremde Splitter8. Übrigens verzeihen wir alles, wenn auch Gott nichts ungeprüft läßt. Nur die Hauptsachen mögen in Geltung bleiben, und unterdrückt die Neuerungen im Glauben! Hebt die Personen (ὑποστάσεις) [hypostaseis] nicht auf9! Den Namen Christi verleugnet nicht! Die Worte Gregors legt nicht falsch aus! Wenn das Gegenteil geschieht, werden wir, solange wir atmen und reden können, unmöglich zu solcher Seelenpest schweigen können.
λιτανεὶα [litaneia] = Bußgebete. ↩
Im Buche de Spiritu Sancto c. 29 n. 74 lobt Basilius die Christen von Neocäsarea, daß sie von der Lehre und den rituellen Einrichtungen des Gregor nicht abgewichen seien. Ganz läßt sich der Widerspruch nicht beheben, wenn auch gesagt werden kann, daß der Tadel hier auf Nebensächliches sich beschränkt, wie auf das Bedecken des Hauptes beim Gebete, und auf das mehr ethische Gebiet, auf das Schwören, Verleumden u. ä. ↩
1 Kor. 11, 4. ↩
1 Kor. 11, 7. ↩
Matth. 5, 34. ↩
Matth. 5, 22. ↩
Ps. 5, 7 [Hebr. Ps. 5, 7]. ↩
Vgl. Matth. 7, 5. ↩
Vgl. oben S. 229 Anm. 1. ↩
